Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruchskürzung bei unfallbedingt psychisch Geschädigten (hier depressive Störungen) wegen unterlassener zumutbarer ärztlicher Behandlung
Leitsatz (amtlich)
1. Auch bei unfallbedingten psychischen Störungen (hier "rezidivierende depressive Störung nach ICD-10, F33.1) muss sich der Geschädigte grundsätzlich eine Anspruchskürzung wegen unterlassener ärztlicher Behandlung gefallen lassen.
2. Macht der Geschädigte einen Erwerbsschaden geltend, ist er verpflichtet, seine verbliebene Arbeitskraft in den Grenzen des Zumutbaren so nutzbringend wie möglich zur Abwendung oder Minderung des Erwerbsschadens einzusetzen. Unterlässt er es, einer ihm zumutbaren Erwerbstätigkeit nachzugehen, sind die erzielbaren (fiktiven) Einkünfte auf den Schaden anzurechnen (keine quotenmäßige Anspruchskürzung; vgl. BGH, Urteil vom 21. September 2021 - VI ZR 91/19, juris).
3. Der Erwerbsschadenminderungspflicht kann eine weitere Obliegenheit des Verletzten vorgeschaltet sein, wenn die unfallbedingt reduzierte Arbeitskraft durch zumutbare Maßnahmen wiederhergestellt oder jedenfalls verbessert werden kann. Bei nicht ganz geringfügigen Verletzungen muss er einen Arzt aufsuchen und dessen Anordnungen befolgen. Der Vorwurf einer Obliegenheitsverletzung setzt jedoch voraus, dass dem Geschädigten die Therapie oder sonstige ärztliche Behandlung zumutbar gewesen. Um die medizinische Behandlung einer unfallbedingten psychischen Erkrankung durch eine stationäre oder medikamentöse Therapie als zumutbar erachten zu können, wird regelmäßig die sichere Aussicht einer wesentlichen Besserung zu fordern sein (BGH, Urteil vom 21. September 2021 - VI ZR 91/19, juris Rn. 12).
4. Für die Frage, ob und inwieweit sich das Mitverschulden bei der Ermittlung des Schadensumfangs ausgewirkt hat (Haftungsausfüllung), gilt generell das reduzierte Beweismaß des § 287 ZPO.
5. Zur Besserung seiner rezidivierenden depressive Störung wäre eine initiale 4 bis 8 wöchige stationäre Behandlung in einer psychiatrischen Klinik mit anschließender ambulanter psychotherapeutischer und medikamentöser Therapie indiziert und zumutbar gewesen. Eine solche Therapie gilt in Fachkreisen als einfach und gefahrlos und hat sehr große Aussicht auf eine wesentliche gesundheitliche Besserung sowie (zumindest teilweisen) Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit.
6. Unter Berücksichtigung der beruflichen Qualifikation (u.a. Hauptschulabschluss mit der Note "4", Ausbildung zum Bürokaufmann mit Schwerpunkt IT), der konkreten Situation auf dem örtlichen Arbeitsmarkt zum Stichtag und der verbliebenen gesundheitlichen Einschränkungen hätte der Geschädigte mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Erwerbschance im öffentlichen Dienst mit der Besoldungsstufe E 5 nach TVöD/TVL SH gehabt.
7. Bei der Kürzung des fiktiven Verdienstausfallschadens wegen schuldhafter Verletzung einer Erwerbsobliegenheit bleiben die Einkünfte aus einer tatsächlich gezahlten Erwerbsunfähigkeitsrente unberücksichtigt, da diese - gleichfalls fiktiv - bei "regulärer" Arbeit nicht gezahlt worden wäre.
Normenkette
BGB §§ 252, 253 Abs. 1, § 254 Abs. 2; StVG § 7 Abs. 1, § 11 S. 2; ZPO § 287
Verfahrensgang
LG Kiel (Urteil vom 09.12.2016; Aktenzeichen 5 O 242/12) |
Tenor
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von EUR 10.000,00 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger EUR 116.966,27 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. auf EUR 15.367,80 seit dem 07.10.2009, auf EUR 67.047,07 seit dem 05.06.2012 sowie auf EUR 116.966,27 seit dem 27.10.2016 sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von EUR 1.196,43 zu zahlen.
3. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger ab November 2016 bis zum 23. November 2036 seinen Verdienstausfallschaden unter Abzug fiktiver Einkünfte in Höhe von 75% der Einkünfte nach der Entgeltgruppe E5 TVöD/TV-L SH (Steuerklasse IV) zu ersetzen.
4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
5. Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen der Kläger 27% und die Beklagte 73%. Von den Kosten des Berufungsrechtszuges tragen der Kläger 30% und die Beklagte 70%. Von den Kosten des Revisionsverfahrens (BGH VI ZR 91/19) tragen der Kläger 66% und die Beklagte 34%.
6. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
7. Den Parteien wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch die jeweils andere Partei gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
I. Der Kläger hat die Beklagte als Haftpflichtversicherer auf weiteren immateriellen Schadenersatz, materiellen Schadensersatz und Feststellung der Ersatzpflicht für einen behaupteten Verdienstausfallschaden bis zur Vollendung des 67. Lebensjahres in Anspruch genommen; nunmehr streiten die Parteien allein noch um den Verdienstausfallsch...