Peter Fölsch, Dipl.-Rpfl. Joachim Volpert
1. Fallgruppen
Rz. 24
Die Anhörungsrüge ist nach § 12a Abs. 1 Nr. 2 begründet, wenn das Gericht den Anspruch des die Anhörungsrüge erhebenden Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat.
Rz. 25
Mit der Anhörungsrüge nach § 12a Abs. 1 Nr. 2 kann nur die Verletzung rechtlichen Gehörs gerügt werden. Der Anspruch auf rechtliches Gehör entspringt als "prozessuales Urrecht des Menschen" dem Verfassungsrecht (Art. 103 Abs. 1 GG), hat aber einfachgesetzlich eine weitergehende Ausgestaltung im Verfahrensrecht gefunden, indem er das Recht auf Teilhabe am Entscheidungsprozess einschließt.
Rz. 26
Der Anspruch auf rechtliches Gehör gibt den Beteiligten ein Recht zur Äußerung über Tatsachen, Beweisergebnisse und die Rechtslage. Das Gebot rechtlichen Gehörs verpflichtet ein Gericht darüber hinaus, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Art. 103 Abs. 1 GG ist erst verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Die Gerichte sind dabei nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen.
Vollkommer schlägt die Bildung folgender Fallgruppen für typische Verstöße gegen den Anspruch auf Verletzung rechtlichen Gehörs vor:
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Pannenfälle (unbeabsichtigter Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör) |
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Präklusionsfälle (Ausschluss des Äußerungsrechts aus Gründen, die im Prozessrecht keine Stütze finden) |
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Hinweisfälle (insbesondere: Entscheidung ohne Vorankündigung/Hinweis oder bei Erteilung unklarer, sachlich unrichtiger und rechtlich verfehlter Hinweise) |
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Nichtberücksichtigungsfälle (insbesondere: evidente Verfehlung des Sachverhalts, willkürliche Verfahrensgestaltung, Übergehen wesentlichen Parteivorbringens). |
2. Gehörsverletzung
Rz. 27
Stützt das Gericht seine Entscheidung auf Gesichtspunkte, die nicht Gegenstand des Verfahrens gewesen sind, oder lässt es Gesichtspunkte unbeachtet, die Gegenstand des Verfahrens gewesen sind, liegt jeweils eine Gehörsverletzung vor. Das Gebot rechtlichen Gehörs soll sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Beteiligten haben. Das Gebot verpflichtet die Gerichte allerdings nicht, der Rechtsansicht der Beteiligten zu folgen oder eine für den Antragsteller ungünstige Rechtsauffassung zu überprüfen. Geht das Gericht in seinen Entscheidungsgründen auf den wesentlichen Kern des Vortrags einer Partei zu einer Frage nicht ein, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war. Hingegen ist der Anspruch auf rechtliches Gehör in der Regel nicht verletzt, wenn die vorgetragenen Gesichtspunkte zutreffend erfasst wurden und auch in die Entscheidung eingeflossen sind, jedoch in ihrer rechtlichen Bedeutung verkannt wurden. Von einer Verletzung des rechtlichen Gehörs ist nicht schon dann auszugehen, wenn bei einem nicht berücksichtigten und nicht zur Akte gelangten Schriftsatz unaufklärbar bleibt, ob er in die Verfügungsgewalt des Gerichts gelangt und dort außer Kontrolle geraten oder ob er bereits auf dem Postweg dorthin verlorengegangen ist.
Rz. 28
Aus welchen Gründen es zur Verletzung des rechtlichen Gehörs gekommen ist und ob diese mit Verschulden erfolgte, ist weder für die Statthaftigkeit noch für die Begründetheit der Anhörungsrüge von Bedeutung.
Rz. 29
Die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör muss entscheidungserheblich sein. Davon ist immer dann auszugehen, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Gericht ohne Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre. Ausreichend ist damit, dass eine dem Rügeführer günstigere Entscheidung nicht ausgeschlossen werden kann; nicht erforderlich ist, dass die Entscheidung bei der Gehörsgewährung für ihn tatsächlich günstiger ausgefallen wäre.
3. Neue und eigenständige Gehörsverletzung
Rz. 30
Nach der Rechtsprechung muss sich die Anhörungsrüge gegen eine "neue und eigenständige" Verletzung des rechtlichen Gehörs durch das mit der Anhörungsrüge angerufene Gericht selbst richten. Nur bei einer "neuen und eigenständigen" Gehörsverletzung ist die Entscheidungserheblichke...