Rz. 81
Welche Rechtsfolgen eintreten, wenn die Bestimmung unbillig ist, regelt das RVG nicht. Insoweit gilt § 315 Abs. 3 BGB. Danach ist die vom Anwalt getroffene Bestimmung verbindlich, wenn sie der Billigkeit entspricht. Entspricht sie nicht der Billigkeit, so wird die Bestimmung durch Urteil getroffen (§ 315 Abs. 3 S. 2, 1. Hs. BGB).
Rz. 82
Im Verhältnis zum Auftraggeber ist daher die Bestimmung der Billigkeit in vollem Umfang überprüfbar. Dies bedeutet aber nicht, dass die Bestimmung der Gebühr im Einzelfall bis auf den Cent zu überprüfen ist. Vielmehr steht dem Anwalt ein gewisser Ermessensspielraum ("Toleranzbereich") zu; innerhalb dieses Rahmens ist seine Entscheidung auch gerichtlich nicht überprüfbar. Nach der bereits zur BRAGO entwickelten Rechtsprechung betrug der Toleranzbereich 20 %. Sofern die Bestimmung des Anwalts die nach Ansicht des Gerichts angemessene Gebühr um nicht mehr als 20 % überstieg, war noch keine Unbilligkeit i.S.d. § 315 Abs. 3 BGB gegeben. Die 20 %-Toleranzgrenze zugunsten des Rechtsanwalts bei der Bestimmung der Rahmengebühren ist auch dann zu beachten, wenn damit die Höchstgebühr erreicht wird.
Rz. 83
Zu beachten ist, dass bei der Festlegung der 20 %-Toleranzgrenze nicht eine Gesamtbetrachtung aller Gebühren des jeweiligen Verfahrensabschnitts vorzunehmen ist, sondern dass jede die einzelne Gebühr zu betrachten ist.
aa) Erweiterung des Toleranzbereichs
Rz. 84
Für den Geltungsbereich des RVG hat die Rechtsprechung die Toleranzgrenze von 20 % unverändert übernommen. Das gilt auch für das Festsetzungsverfahren. Dagegen wird im Schrifttum geltend gemacht, dass gegenüber § 118 BRAGO, der einen Gebührenrahmen von 5/10 bis 10/10 vorsah, unter der Geltung des RVG der Rahmen der Gebührenbemessung bei der außergerichtlichen Vertretung mit ihrem Gebührenrahmen von 0,5 bis 2,5 erheblich vergrößert worden sei. Diese Wertentscheidung des Reformgesetzgebers müsse konsequenterweise eine Erhöhung des Toleranzbereiches auf 30 % zur Folge haben.
Rz. 85
Diese Forderung nach einer Erweiterung des Toleranzbereichs begegnet allerdings Bedenken. Man mag gegen einen prozentualen Aufschlag im Bereich einer Ermessensüberprüfung schon grundsätzlich Einwände haben – diese können jedoch nicht darüber hinweghelfen, dass die Praxis ein brauchbareres Instrumentarium zur Überprüfung der Gebührenbestimmung (noch) nicht gefunden hat. Sie wird also weiter mit einem Toleranzbereich arbeiten, ohne nachvollziehbar begründen zu können, warum eine um 20 % höhere Gebühr noch billig ist, eine um 28 % oder 30 % erhöhte Gebühr dagegen nicht mehr. Allerdings stellt sich die Frage, ob – wie von der oben dargestellten Literaturmeinung gefordert – gerade aufgrund der Einführung des RVG der Toleranzbereich erweitert werden darf. Dabei ist zunächst zwischen den zivil- und verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten nach VV Teil 2 sowie den straf- und bußgeldrechtlichen Angelegenheiten nach VV Teil 4 und 5 zu unterscheiden
Rz. 86
Bei den Betragsrahmengebühren in straf- und bußgeldrechtlichen Angelegenheiten ist eine Erweiterung des Toleranzbereiches aufgrund eines vergrößerten Gebührenrahmens nicht zu rechtfertigen. Denn das Verhältnis von Höchst- zu Mindestgebühr, also die Spannweite des Gebührenrahmens, hat sich durch die Einführung des RVG im Vergleich zur BRAGO nicht wesentlich verändert. Zwar ist das Gebührensystem – insbesondere in Bußgeldsachen – weitgehend neu gestaltet worden. Die maßgeblichen Betragsrahmengebühren weisen jedoch in ihrer Spannweite keine relevanten Unterschiede auf.
Rz. 87
Bei den zivil- und verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten kann im Hinblick auf die Satzrahmengebühr des VV 2300 dagegen durchaus eine erhebliche Erweiterung des Gebührenrahmens festgestellt werden. Jungbauer lehnt eine daraus abgeleitete Erweiterung des Toleranzbereiches schon aus dem Grund ab, dass sich der Toleranzbereich von 20 % nicht auf den Rahmen beziehe, sondern vielmehr auf die vom Anwalt nach seinem Ermessen festgelegt...