Rz. 103

Nach der Rechtsprechung des BGH[42] soll eine Anrechnung auch noch in der Kostenfestsetzung für das Rechtsmittelverfahren möglich sein, wenn die Anrechnung in erstinstanzlichen Verfahren übersehen worden ist. Diese Auffassung ist jedoch unzutreffend. Eine Geschäftsgebühr ist auf die Verfahrensgebühr eines nachfolgenden gerichtlichen Verfahrens anzurechnen und nicht auf die eines späteren Verfahrens. Soweit der BGH sich dabei auf die Entscheidungen diverser Finanzgerichte beruft, trägt das nicht. Der BGH übersieht, dass in finanzgerichtlichen Verfahren die Gebühr der VV 3200 die erstinstanzliche Verfahrensgebühr ist (siehe VV Vorb. 3.2.1 Nr. 1). Diese Entscheidungen belegen also gerade nicht die These des BGH, sondern widersprechen ihr. Weder in Rspr. noch in der Lit. ist bislang jemand auf die Idee gekommen, eine vorgerichtliche Geschäftsgebühr im Rechtsmittelverfahren anzurechnen, wenn der Anwalt auch erstinstanzlich tätig geworden ist. Der BGH sieht auch gar nicht, welche "Büchse der Pandora" er damit geöffnet hat. Dazu zwei Beispiele:

 

Beispiel 1: Der Kläger klagt 10.000 EUR nebst einer Geschäftsgebühr daraus ein. Der Beklagte verteidigt sich mit einer die Klageforderungen übersteigenden Hilfsaufrechnung. Das Gericht hält beide Forderungen für begründet und weist demzufolge die Klage im Hinblick auf die Hilfsaufrechnung ab. Die Kosten werden gegeneinander aufgehoben. Der Beklagte legt nunmehr Berufung ein und erstrebt die Abweisung der Klage mit der Begründung, schon die Klageforderung bestehe nicht. Die Berufung hat keinen Erfolg. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Beklagte.

Nach der Logik des BGH könnte sich der Beklagte hinsichtlich der Kostenfestsetzung für die zweite Instanz auf die Anrechnung der erstinstanzlich titulierten Geschäftsgebühr berufen, was er in erster Instanz mangels Kostenerstattungsanspruchs des Gegners nicht könnte.

 

Beispiel 2: Der Kläger klagt 10.000 EUR nebst einer Geschäftsgebühr daraus ein. Die Klage wird abgewiesen. Dagegen legt er Berufung ein, die er aufgrund neuen Sachvortrags, den er bereits erstinstanzlich hätte vorbringen können, gewinnt. Der Klage wird also in zweiter Instanz stattgegeben. Die Kosten der ersten Instanz trägt der Beklagte; die Kosten des Berufungsverfahrens werden dagegen dem Kläger gem. § 97 Abs. 2 ZPO auferlegt.

Jetzt wäre es am Kläger, sich darauf zu berufen, dass die Anrechnung der Geschäftsgebühr im Rechtsmittelverfahren vorzunehmen sei, wo sie ihm nicht schaden würde.

 

Rz. 104

Zu denken wäre auch an den Fall, dass in erster und in zweiter Instanz unterschiedliche Kostenquoten ausgeworfen werden. Auch dann kann es für beide Parteien entscheidend sein, ob in erster oder zweiter Instanz angerechnet wird.

 

Rz. 105

Wie diese Fälle zu lösen sein sollen, also wer sich auf die ihm jeweils günstiger Instanz soll berufen können, wird der BGH vermutlich demnächst erklären müssen.

 

Rz. 106

Für eine solche ausdehnende Auslegung besteht keine Veranlassung. Wenn der Anwalt des Beklagten eine fehlerhafte erstinstanzliche Kostenfestsetzung (Nichtberücksichtigung der Anrechnung) rechtskräftig werden lässt, so ist das hinzunehmen. Dann muss er für seinen Fehler einstehen. Er muss die Anrechnung erstinstanzlich einwenden.

[42] BGH 20.12.2011 – XI ZB 17/11, AGS 2012, 223 = RVGreport 2012, 118 = NJW-RR 2012, 313.

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