Rz. 20
Die für das Gericht geltenden Streitwertvorschriften sind aber nur dann sinngemäß anwendbar, wenn der Gegenstand der anwaltlichen Tätigkeit auch Streitgegenstand eines gerichtlichen Verfahrens sein könnte. Die Abgrenzung bereitet im Einzelfall erfahrungsgemäß oft Schwierigkeiten. Diese lassen sich mit der richtigen Fragestellung bewältigen. Sie lautet: "Hat der Mandant einen materiell-rechtlichen Anspruch auf das, was er mit Hilfe des Anwalts erreichen will?"
Es geht also schlicht darum, ob eine materiell-rechtliche Anspruchsnorm für das Begehren des Mandanten zu finden ist. Wird das bejaht, dann könnte es zum Prozess kommen, weil die Möglichkeit besteht, den Gegner durch Anrufung des Gerichts zu zwingen, den Anspruch anzuerkennen oder zu erfüllen.
a) Mögliches gerichtliches Verfahren
Rz. 21
Beispiel 1: Der Anwalt fordert den Schuldner auf, die Miete oder den Kaufpreis oder Schadensersatz an den Gläubiger zu zahlen.
Zahlt dieser nicht, kann er auf Leistung verklagt werden. Es kommt dabei nur auf die objektive Möglichkeit eines Prozesses an. Sie besteht auch, wenn der Mandant den Anwalt anweist, auf keinen Fall zu klagen. Der Mandant könnte es sich jederzeit anders überlegen.
Beispiel 2: A und B sind Miterben. Zur Erbmasse gehört ein bebautes Grundstück. A beauftragt einen Anwalt mit Verhandlungen über eine von A vorgeschlagene einverständliche Auseinandersetzung.
Der Teilungsvorschlag des A kann nach § 2042 BGB Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens, nämlich einer Erbteilungsklage, werden.
Die Regelung findet auf sozialrechtliche Widerspruchsverfahren ebenfalls Anwendung, denn die Anfechtung belastender oder Verteidigung begünstigender Verwaltungsakte als Gegenstand des Widerspruchsverfahrens kann auch Gegenstand in einem Anfechtungsklageverfahren sein. In öffentlich-rechtlichen Verfahren kann es für die Ermittlung des Gegenstandswerts im Vorverfahren nach der Systematik des RVG in dieser Konstellation nur darauf ankommen, wie der Streitwert in einem gedachten gerichtlichen Verfahren festzusetzen wäre. Das Gesetz geht erkennbar davon aus, dass die Bestimmung des Werts bei demselben Gegenstand im vorgerichtlichen und gerichtlichen Verfahren nach denselben Regeln erfolgt (vgl. VV Vorb. 3 Abs. 4).
Hintergrund des Verweises auf die Wertvorschriften für das gerichtliche Verfahren in § 23 Abs. 1 S. 3 ist gerade die Sicherstellung, dass bei einer eventuell nach VV Vorb. 3 Abs. 4 erforderlichen Anrechnung der Gegenstandswert nicht nach unterschiedlichen Regelungen bestimmt werden muss.
b) Nicht mögliches gerichtliches Verfahren
Rz. 22
Beispiel: Der Anwalt soll für den Mandanten einen Vertrag oder Allgemeine Geschäftsbedingungen entwerfen bzw. überprüfen.
Ein solcher Auftrag kann nicht Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens gegen einen Dritten sein. Denkbar wäre nur eine Klage gegen den Anwalt auf Erfüllung dieses Auftrags. Doch dann wäre eine Anspruchsgrundlage gegeben: der Anwaltsvertrag, § 675 BGB.
Rz. 23
Unanwendbar ist Abs. 1 S. 3, wenn der Gegner des Mandanten zu freiwilligen Leistungen veranlasst werden soll.
Beispiel: Ein Käufer schuldet dem Verkäufer den Kaufpreis. Er beauftragt einen Anwalt, mit dem Verkäufer über eine Stundung oder über eine vergleichsweise Ermäßigung der Schuld zu verhandeln. Einen materiell-rechtlichen Anspruch auf dieses Stundungsbegehren oder den Abschluss eines Vergleichsvertrags gibt es nicht. Das Begehren des Schuldners ließe sich nicht durch eine Klage gegen den Gläubiger durchsetzen.
Rz. 24
Es gibt allerdings auch Fälle, in denen ein klagbarer Anspruch auf Stundung besteht. Dann ist Abs. 1 S. 3 einschlägig. So verhält es sich beispielsweise beim Zugewinnausgleich (§ 1382 Abs. 1 S. 1 BGB) oder beim Pflichtteilsanspruch (§ 2331a BGB).