Lotte Thiel, Dr. iur. Thomas Eder
Rz. 93
§§ 612, 632 BGB sehen in ihrem Absatz 2 vorrangig die taxmäßige Vergütung vor. Zwar ist das RVG eine Taxe im Sinne dieser Vorschriften; die zum 1.7.2006 erfolgte Deregulierung des Vergütungsrechts für die in Abs. 1 S. 1 genannten Tätigkeitsbereiche hat jedoch gerade eine ersatzlose Streichung der einschlägigen Gebührentatbestände des RVG bewirkt (siehe Rdn 2 ff.). In Ermangelung einer staatlichen Taxe für die beratende, gutachtliche oder mediierende Tätigkeit des Rechtsanwalts ist daher die übliche Vergütung als vereinbart anzusehen. Sie richtet sich nicht mehr nach Tarifsätzen, sondern vielmehr nach Marktkriterien. Daher verbietet sich auch ein Rückgriff auf die vom Reformgesetzgeber zum 1.7.2006 bewusst außer Kraft gesetzten Taxen der VV 2100 ff. a.F.
Rz. 94
Üblich ist eine Vergütung, die am gleichen Ort in gleichen oder ähnlichen Berufen für entsprechende Dienstleistungen bezahlt zu werden pflegt, wobei es auf die Umstände des Einzelfalls ankommt. Die Ermittlung der üblichen Vergütung nach Abs. 1 S. 2 setzt mithin neben ihrer Ortsüblichkeit eine Branchenüblichkeit voraus.
aa) Ortsüblichkeit
Rz. 95
Das für den arbeitsvertraglichen Sektor zu § 612 Abs. 2 BGB entwickelte Kriterium der Ortsüblichkeit ist für Abs. 1 S. 2 im anwaltsspezifischen Sinne zu konkretisieren. Als Region, innerhalb derer die Üblichkeit zu ermitteln ist, bietet sich der Bezirk des Oberlandesgerichts an, in welchem der liquidierende Anwalt seine Kanzlei unterhält. Die rechtliche Anknüpfung erfolgt über § 60 BRAO, wonach in diesem Bezirk alle Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte zu einer Rechtsanwaltskammer zusammengeschlossen sind. Die Ortsüblichkeit ist mithin für den jeweiligen Kammerbezirk zu bestimmen.
bb) Branchenüblichkeit
Rz. 96
Das Merkmal der Branchenüblichkeit wird durch den Anwalt selbst kaum zu ermitteln sein, zumal sich die Vergütungshöhe nach der individuellen Qualifikation des mandatierten Anwalts und den Umständen des Einzelfalls richtet. Der nach § 612 Abs. 2 BGB erforderliche Vergleich verbietet jedoch einen individuell-konkreten Prüfungsmaßstab; notwendig ist vielmehr eine objektive Betrachtungsweise. Maßgeblich für die Branchenüblichkeit ist daher eine nach Marktkriterien definierte Vergütung, die für eine "entsprechende Dienstleistung" gezahlt wird. Die Frage der Üblichkeit erweist sich damit als empirisches Problem. Als Determinanten in diesem Sinne sind die Kanzleigröße, die Mandatsstruktur und die Spezialisierung der Kanzlei zu berücksichtigen. Eine in diesem Sinne übliche Vergütung wird erst dann ermittelt sein, wenn für den betreffenden Kammerbezirk das einschlägige Datenmaterial gesammelt und ausgewertet wurde. Nur so kann das in Abs. 1 S. 2 angelegte vergütungsrechtliche Dilemma für die Anwaltschaft behoben werden. Unabhängig davon bleibt abzuwarten, wie die Rechtsprechung den Begriff der üblichen Vergütung ausfüllen wird.
Rz. 97
Nach dem gebotenen empirischen Verständnis setzt eine Üblichkeit voraus, dass der Abschluss einer Gebührenvereinbarung für die in Abs. 1 S. 1 genannten Bereiche überhaupt in statistisch verwertbarer Zahl erfolgt. Dies ist angesichts ihrer aktuellen tatsächlichen Verbreitung zumindest für den Sektor der Mediation fraglich. So bezweifelt Risse mit Recht, dass sich die übliche Vergütung i.S.d. § 612 Abs. 2 BGB für deutsche Wirtschaftsmediationen ermitteln lässt. Im Zweifel ist der empirisch ermittelte – allerdings kaum aktuelle – "Ecksatz" von 150 EUR/Stunde zugrunde zu legen (vgl. Rdn 79). Aktuelleres Datenmaterial legt deutlich höhere Stundensätze als übliche Vergütung näher. Die Üblichkeit ist indes nicht allein nach zeitbasierten Kriterien zu qualifizieren. Auch eine gegenstandswertabhängige Gebühr kann im Einzelfall den Begriff der Üblichkeit ausfüllen.