Rz. 1
Die Vorgängervorschrift des § 96a BRAGO war durch das KostenRÄndG 1975 in die BRAGO eingefügt worden. Der Wortlaut der Vorschrift war missverständlich, was zu zahlreichen Streitfragen geführt hatte. Durch Neufassung des RVG und die Einfügung des jetzigen S. 2 sind damit die meisten Streitfragen geklärt worden. Ältere Rspr. kann daher nicht ohne Weiteres übernommen werden.
Rz. 2
Um Sinn und Zweck dieser Vorschrift zu verstehen, muss man sich zunächst die Ausgangslage verdeutlichen: Nach Abschluss eines Strafverfahrens können zwischen dem Verurteilten und der Staatskasse wechselseitige Ansprüche bestehen, die zu einer Aufrechnungslage führen. Hauptanwendungsfälle sind der Teilfreispruch oder der Erfolg eines beschränkten Rechtsmittels.
Beispiel 1: Der Angeklagte wird wegen Diebstahls und Betruges angeklagt. Wegen des Diebstahls wird er freigesprochen, wegen des Betruges wird er zu einer Geldstrafe von 1.000 EUR verurteilt. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten tragen die Staatskasse und der Angeklagte jeweils zur Hälfte. Die Staatskasse kann nunmehr vom Angeklagten die Geldstrafe in Höhe von 1.000 EUR fordern sowie die Hälfte der Verfahrenskosten. Der Angeklagte wiederum kann von der Staatskasse die Hälfte seiner notwendigen Auslagen verlangen, wozu auch die Kosten seines Verteidigers gehören (§ 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO).
Beispiel 2: Der Angeklagte wird in erster Instanz zu einer Geldstrafe von 5.000 EUR verurteilt. Er legt hiergegen Rechtsmittel ein, das er auf die Höhe der Geldstrafe beschränkt. Das Rechtsmittel ist erfolgreich. Die Geldstrafe wird auf 2.500 EUR ermäßigt. Die Kosten des Berufungsverfahrens sowie die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse (§ 473 Abs. 3 StPO).
Hier verbleiben noch eine Geldstrafe in Höhe von 2.500 EUR sowie die erstinstanzlichen Kosten, die der Angeklagte zu zahlen hat. Demgegenüber steht der Erstattungsanspruch hinsichtlich der notwendigen Auslagen im Berufungsverfahren (§§ 473 Abs. 3, 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO).
In diesen Fällen wird die Staatskasse den Kostenerstattungsanspruch des Verurteilten nicht ohne weiteres erfüllen, sondern sie wird vielmehr die Aufrechnung mit der vom Verurteilten zu zahlenden Geldstrafe und den von ihm zu tragenden Kosten erklären.
Rz. 3
Die Aufrechnung muss nicht auf dasselbe Verfahren beschränkt sein, sondern kann auch verschiedene Verfahren betreffen.
Beispiel: Der Angeklagte wird im August zu einer Geldstrafe von 2.000 EUR verurteilt. Im November wird er in einem anderen Verfahren freigesprochen. Mit der Geldstrafe und den Kosten des ersten Verfahrens kann die Staatskasse gegen den Kostenerstattungsanspruch aus dem zweiten Verfahren aufrechnen.
Rz. 4
Hat der Angeklagte in solchen Fällen seine Kostenerstattungsansprüche gegen die Staatskasse an seinen Verteidiger abgetreten, so ergibt sich nach den §§ 404 ff. BGB folgende Situation:
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Die Staatskasse könnte wirksam aufrechnen, so dass dem Verteidiger die Abtretung letztlich nicht zu seiner Vergütung verhilft. Die Möglichkeit der Aufrechnung durch die Staatskasse bestünde dabei unabhängig davon, ob die Abtretung der Kostenerstattungsansprüche vor der Aufrechnungserklärung erfolgt ist oder erst später. |
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Soweit die Abtretung noch nicht erklärt ist, besteht die Aufrechnungslage (§ 387 BGB) noch, so dass die Staatskasse problemlos aufrechnen kann. |
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Das Gleiche gilt, wenn die Abtretung vollzogen ist, die Staatskasse hiervon aber noch keine Kenntnis hatte. Auch dann könnte sie nach § 407 BGB noch gegen den Angeklagten aufrechnen, was der Verteidiger gegen sich gelten lassen müsste. |
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Aber auch dann, wenn die Abtretung offen gelegt ist, könnte die Staatskasse nach § 406 BGB immer noch aufrechnen. Sie müsste jetzt die Aufrechnung lediglich gegenüber dem Verteidiger erklären. |
Rz. 5
Die Abtretung der Kostenerstattungsansprüche an den Verteidiger liefe daher in den Fällen der teilweisen Verurteilung, eines teilweise beschränkten Rechtsmittels oder bei einem Freispruch nur in einem von mehreren Verfahren weitgehend leer. Diesen Zustand sollte die Einführung des § 96a BRAGO beseitigen und den Verteidiger vor einer Aufrechnung der Staatskasse schützen, indem die Aufrechnung der Staatskasse gegenüber dem Verteidiger unter bestimmten Voraussetzungen unwirksam bleibt. Der Verteidiger kann also ungeachtet der gleichzeitig gegebenen Zahlungspflicht des Verurteilten die ihm abgetretenen Erstattungsansprüche gegen die Staatskasse geltend machen. Das Insolvenzrisiko wird insoweit auf die Staatskasse verlagert. Diese Regelung des früheren § 96a BRAGO gilt weiterhin nach § 43 fort, allerdings ist jetzt geklärt, dass zum Zeitpunkt der Aufrechnung eine Urkunde über die Abtretung oder eine Anzeige des Beschuldigten oder des Betroffenen über die Abtretung in den Akten vorliegen muss (S. 2).
Rz. 6
Nur durch eine Abtretung kann sich der Prozessbevollmächtigte seinen Vergütungsanspruch gegen den Mandanten sichern. Der prozessuale Kostenerstattungsanspruch...