1. Allgemeines
Rz. 227
Abs. 4 S. 1 regelt, in welchem Umfang bzw. in welcher Höhe eine Anrechnung der Geschäftsgebühr nach VV Teil 2 auf Gebühren in einem späteren gerichtlichen Verfahren erfolgen muss. Grundsätzlich erfolgt eine Anrechnung zur Hälfte. Es besteht jedoch eine Kappungsgrenze: Die Geschäftsgebühr wird höchstens mit einem Gebührensatz von 0,75 angerechnet. Sind mehrere Gebühren entstanden, so regelt Abs. 4 S. 3, dass für die Anrechnung die zuletzt entstandene Gebühr maßgebend ist. Abs. 4 S. 5 sieht nunmehr ausdrücklich vor, dass die Anrechnung nur nach dem Wert des Gegenstands erfolgen soll, der auch in das gerichtliche Verfahren übergegangen ist.
2. Wegen desselben Gegenstands
Rz. 228
Die Anrechnung erfolgt nur, wenn die Gebühren nach VV Teil 2 "wegen desselben Gegenstands" entstanden sind wie die Gebühren für das gerichtliche Verfahren, wofür von der Rechtsprechung ein zeitlicher, personeller und sachlicher Zusammenhang gefordert wird.
Rz. 229
Es muss also zunächst ein zeitlicher Zusammenhang des gerichtlichen Verfahrens mit der außergerichtlichen Tätigkeit des Rechtsanwalts bestehen. Das ist dann der Fall, wenn der Anwalt mit der Angelegenheit noch vertraut und keine vertiefte erneute Einarbeitung erforderlich ist. Ist dagegen der zeitliche Abstand so groß, dass gewissermaßen eine völlig neue Einarbeitung erforderlich ist, muss keine Anrechnung erfolgen. Denn es soll auf jeden Fall gesondert vergütet werden, wenn ein Anwalt sich neu mit einem Sachverhalt vertraut machen muss und zwar auch angesichts des Umstands, dass nach dem RVG immer ein Teil der Geschäftsgebühr erhalten bleibt, der das Betreiben des außergerichtlichen Geschäfts abgilt. Denn ein Anwalt, der sich aufgrund eines Prozessauftrags wieder mit einem Sachverhalt vertraut machen muss, der ihm wegen des Zeitablaufs kaum noch bekannt ist, darf nicht schlechter stehen als ein Anwalt, der unmittelbar einen Klageauftrag erhält. Dies entspricht auch dem in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck kommenden Zweck der Anrechnungsvorschrift. Wann ein zeitlicher Zusammenhang besteht, der eine Anrechnung erforderlich macht, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Als Maximum kann die Zwei-Jahres-Frist des § 15 Abs. 5 S. 2 herangezogen werden.
Rz. 230
Neben dem zeitlichen muss auch ein personeller Zusammenhang bestehen. Derselbe Rechtsanwalt oder dieselbe echte Sozietät muss gegenüber der gleichen Person tätig werden. Findet also zwischen der außergerichtlichen und der gerichtlichen Tätigkeit ein Anwaltswechsel statt, so scheidet eine Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr aus, weil die jeweiligen Gebühren von verschiedenen Anwälten verdient wurden. Der BGH hat zutreffend ausgeführt, dass in solchen Fällen auch nicht der Grundsatz herangezogen werden könnte, wonach eine Partei die Kosten so gering wie möglich zu halten habe. Der Erstattungsberechtigte müsse sich nicht so behandeln lassen, als habe er nur einen Anwalt beauftragt, da die Anrechnungsregelung in Abs. 4 nicht dem Schutz des Prozessgegners diene. Es bestehe daher kein Anlass, die Verfahrensgebühr nur deshalb zu kürzen, weil eine Partei vorprozessual von einem anderen Anwalt vertreten wurde, der allein die Geschäftsgebühr verdient habe.
Rz. 231
Praktisch bedeutsam dürfte weiter die Frage sein, ob ein die Anrechnung begründender personeller Zusammenhang besteht, wenn der Rechtsanwalt im Rahmen der Unfallschadenregulierung zunächst den Haftpflichtversicherer des Gegners im Rahmen des Direktanspruchs zur Zahlung auffordert, dann aber lediglich den Unfallgegner selbst verklagt. Hier richtet sich das Begehren gegen zwei verschiedene Personen – nämlich den Schädiger und seinen Versicherer –, so dass eine Anrechnung nicht erfolgt. Anderes gilt jedoch, wenn der Geschädigte keinen Direktanspruch gegen den (Berufs-)Haftpflichtversicherer des Schädigers hat. In diesem Fall ist die Geschäftsgebühr für die außergerichtlichen Vergleichsverhandlungen mit dem Versicherer auf die Gebühren des Klageverfahrens gegen den Schädiger anzurechnen.
Rz. 232
Schließlich muss auch ein sachlicher Zusammenhang zwischen der vorprozessualen Tätigkeit und dem gerichtlichen Verfahren bestehen. Der Streitstoff muss im Wesentlichen derselbe sein. Diese Voraussetzung ist beispielsweise erfüllt, wenn der Rechtsanwalt den Schuldner in Verzug setzt und dann Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangt, wenn nach Bezahlung eines Teils der geltend gemachten Forderung die Restforderung eingeklagt wird oder wenn nach Geltendmachung von Behandlungsfehlern ein selbstständiges Beweisverfahren durchgeführt wird. Dagegen besteht kein innerer Zusammenhang zwischen der Fertigung eines Entwurfs einer notariellen Anfechtungserklärung und der Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit des notariellen Erbvertrags, der außergerichtlichen Zahlungsaufforderung und der Klage auf Feststellung des Fälligkeitszeitpunktes für zukünftige Zahlungen oder wenn isolierte Klage auf Erstattung der vorgerichtlichen Anwal...