1. Problemaufriss
Rz. 36
Die Reichweite des § 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 10 ist im Einzelnen umstritten. Häufig wird hier die Frage nach dem Entstehen der Gebühren im Rechtsmittelverfahren mit ihrer Erstattungsfähigkeit gleichgesetzt oder verwechselt, was zu einer äußerst unübersichtlichen und kaum noch zu überschauenden Rechtsprechung geführt hat.
2. Eigenes Rechtsmittel
Rz. 37
Einigkeit besteht nur insoweit, als die Einlegung des eigenen Rechtsmittels durch die Gebühren des vorangegangenen Rechtszugs abgegolten wird (§ 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 10).
Rz. 38
Konsequenterweise zählt dann auch die Beratung über die Aussichten und Zweckmäßigkeit eines eventuellen – also noch nicht eingelegten – Rechtsmittels ebenfalls zum vorangegangenen Verfahren und wird durch die dortigen Gebühren abgegolten. Wie sich aus § 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 10 ergibt, dauert das erstinstanzliche Verfahren nämlich bis zur Einlegung eines Rechtsmittels an und erfasst daher alle bis dahin anfallenden anwaltlichen Tätigkeiten.
Rz. 39
Ist das Rechtsmittel jedoch bereits eingelegt und lässt sich der Mandant erst dann über dessen Aussichten beraten, so zählt diese Tätigkeit bereits zum Rechtsmittelverfahren. Anderer Ansicht ist offenbar Hansens, der die Beratung über Zulässigkeit und Zweckmäßigkeit des Rechtsmittels stets noch dem erstinstanzlichen Verfahren zuordnen will. Dies dürfte jedoch unzutreffend sein. Die Einlegung des Rechtsmittels bildet die zeitliche Zäsur zwischen Ausgangs- und Rechtsmittelverfahren. Jede Tätigkeit nach Einlegung des Rechtsmittels wird daher bei Verteidigungsauftrag durch die Gebühren der VV 4124 ff., 4130 ff. abgegolten und bei isoliertem Beratungsauftrag durch die VV 2102. Dazu zählen, wie bereits ausgeführt (siehe Rdn 5), insbesondere
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die Beratung des Mandanten über das bereits eingelegte Rechtsmittel |
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die Überprüfung des Urteils der Vorinstanz |
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die Berufungs- oder Revisionsbegründung |
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die Berufungs- oder Revisionsgegenerklärung |
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die Rücknahme des Rechtsmittels |
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die Einsichtnahme in die Strafakten zur Vorbereitung der Hauptverhandlung. |
Letztlich darf diese Streitfrage jedoch nicht überbewertet werden. Soweit die Beratung über die Aussichten des Rechtsmittels noch zum Ausgangsverfahren gezählt wird, muss diese Mehrarbeit konsequenterweise dort im Rahmen des § 14 Abs. 1 gebührenerhöhend berücksichtigt werden.
3. Gegnerisches Rechtsmittel
Rz. 40
Auch hinsichtlich der Beratung über das Rechtsmittel eines anderen Beteiligten (Staatsanwaltschaft, Neben- oder Privatkläger) ist die gebührenrechtliche Behandlung umstritten.
Rz. 41
Ist das Rechtsmittel der Gegenseite noch nicht eingelegt, soll der Anwalt also nur vorbereitend beraten, so zählt diese Tätigkeit noch zur Ausgangsinstanz. Das Rechtsmittelverfahren beginnt für den in der Instanz beauftragten Verteidiger frühestens mit der Einlegung eines Rechtsmittels durch die Staatsanwaltschaft, den Neben- oder Privatkläger.
Rz. 42
Wird das Rechtsmittel von einem anderen Beteiligten, also aus Sicht des Verteidigers von der Staatsanwaltschaft, dem Neben- oder Privatkläger eingelegt, aus Sicht des Privat- oder Nebenklägers vom Angeklagten oder zu dessen Gunsten von der Staatsanwaltschaft, so ist umstritten, ob die Beratung über die Aussichten des gegnerischen Rechtsmittels nach § 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 10 durch die Gebühren des erstinstanzlichen Verfahrens abgegolten wird.
Rz. 43
Vereinzelt wird die Auffassung vertreten, die Beratung über die Erfolgsaussichten des gegnerischen Rechtmittels würde für den Verteidiger noch zum vorausgehenden Rechtszug zählen. Diese Auffassung ist aus zwei Gründen jedoch abzulehnen: Die Vorschrift des § 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 10 ist eine Ausnahmevorschrift und als solche daher eng auszulegen. Sie gilt ausdrücklich nur, wenn der Mandant Rechtsmittelführer ist, nicht aber auch, wenn er Rechtsmittelgegner ist. Abgesehen davon kann eine Beratung über das gegnerische Rechtsmittel logischerweise erst erfolgen, nachdem es eingelegt worden ist. Die Einlegung des Rechtsmittels wiederum bildet aber die zeitliche Zäsur zwischen erstinstanzlichem Verfahren und Rechtsmittelverfahren, so dass die Beratung über eine bereits eingelegte Berufung immer zum Berufungsrechtszug gehört.
Rz. 44
Werden also von der Staatsanwaltschaft, dem Neben- oder Privatkläger Rechtsmittel eingelegt, so beginnt für den Verteidiger der Gebührenrechtszug der VV 4124 ff., VV 4130 ff. unabhängig davon, ob er bereits erstinstanzlich tätig war oder nicht, mit der ersten Tätigkeit nach Einlegung des Rechtsmittels. Voraussetzung ist allerdings, dass ihm für diese Instanz schon ein Mandat erteilt ist. So wird in aller Regel die bloße Entgegennahme des gegnerischen Rechtsmittels und die Benachrichtigung des Mandanten noch keine Gebühren auslösen, weil der Mandant bis dahin von dem Rechtsmittel noch keine Kenntnis hatte und dah...