Prof. Dr. Stephan Wolf, Andrea Dorjee-Good
Rz. 16
Das schweizerische IPRG unterscheidet bei der Frage des anwendbaren Rechts zwischen dem sog. Erb(folge)statut und dem Eröffnungsstatut:
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Das Erbstatut bestimmt die materiell-rechtlichen Fragen und damit namentlich was zum Nachlass gehört, wer in welchem Umfang daran berechtigt ist und welche Rechtsbehelfe und Maßnahmen zulässig sind (Art. 92 Abs. 1 IPRG, unverändert); es richtet sich nach dem gem. Art. 90 f. IPRG anwendbaren Erbrecht. |
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Demgegenüber regelt das Eröffnungsstatut die Durchführung der einzelnen Maßnahmen und damit die verfahrensrechtlichen Fragen, welche gem. Art. 92 Abs. 2 nIPRG stets der lex fori und damit dem Schweizer Recht unterliegen. |
Rz. 17
Die Unterscheidung zwischen Erbstatut und Eröffnungsstatut wirkt sich allerdings nur dann aus, wenn die zuständigen schweizerischen Gerichte oder Behörden zur Anwendung eines ausländischen Erbstatuts gehalten sind. Diesfalls kommt es aufgrund dieser Regelung zu einer Spaltung zwischen materiellem und formellem Recht.
Rz. 18
Die sachliche Abgrenzung zwischen Erbstatut und Eröffnungsstatut erweist sich in der Praxis mitunter als schwierig. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass das Eröffnungsstatut nur die Verfahrensfragen i.e.S. umfasst, so dass das Erbstatut zu einer extensiven Anwendung gelangt.
Rz. 19
Vom Erbstatut werden insbesondere folgende Bereiche erfasst:
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Gegenstand und Wert des Nachlasses; |
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Berechtigung am Nachlass im weitesten Sinn; |
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Modalitäten des Erwerbs der Erbschaft; |
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Voraussetzungen, Inhalt und legitimationsrechtliche Wirkungen des Erbenscheins; |
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Voraussetzungen und Wirkungen von mit der Verwirklichung erbrechtlicher Ansprüche eng verknüpften Klagen und Maßnahmen; |
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Zulässigkeit und Frist der Ausschlagung; |
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rechtliches Schicksal der Nachlassschulden; |
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inhaltliche (nicht aber formelle) Aspekte der Willensvollstreckung, insb. die Frage, ob der Erblasser überhaupt befugt war, einen Willensvollstrecker einzusetzen, sowie die Rechte und Pflichten des Willensvollstreckers (Aufgaben, Befugnisse, Sorgfaltspflichten, Entschädigungsansprüche etc.). |
Rz. 20
Dem Eröffnungsstatut sind insbesondere folgende Aspekte unterworfen:
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Siegelung und Inventarisierung der Erbschaft; |
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verfahrensrechtliche Aspekte von Klagen und Maßnahmen; |
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Eröffnung des Erbgangs, einschließlich Testamentseröffnung; |
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Ausstellung des Erbscheins (in formeller Hinsicht, nicht jedoch die materiell-rechtlichen Wirkungen des Erbscheins); |
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Verfahren der Ausschlagung und zuständige Behörden; |
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Verfahren zur Errichtung eines öffentlichen Inventars/einer Nachlassverwaltung; |
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Verfahren zur amtlichen Liquidation; |
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formelle, verfahrensrechtliche Aspekte der Willensvollstreckung (behördliche Aufsicht, Rechtsbehelfe der Erben etc.); |
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Berechtigung des Willensvollstreckers oder des Nachlassverwalters am Nachlass und dessen Verfügungsmacht darüber. |
Rz. 21
Im Rahmen der Revision des IPRG kam es zu einer Klarstellung in Bezug auf das anwendbare Recht betreffend die Willensvollstreckung (vgl. Rdn 126 ff. zum Willensvollstrecker nach Schweizer Recht). So fallen inhaltliche (nicht aber formelle) Aspekte der Willensvollstreckung unter das Erbstatut, also insb. die Frage, ob der Erblasser überhaupt befugt war, einen Willensvollstrecker einzusetzen, sowie die Rechte und Pflichten des Willensvollstreckers. Gemeint sind seine Aufgaben, Befugnisse, Sorgfaltspflichten, Entschädigungsansprüche etc. (vgl. Rdn 19). Demgegenüber fallen die formellen, verfahrensrechtlichen Aspekte der Willensvollstreckung (behördliche Aufsicht, Rechtsbehelfe der Erben etc.) unter das Eröffnungsstatut. Klargestellt wird nun ausdrücklich, dass die Berechtigung des Willensvollstreckers oder des Nachlassverwalters am Nachlass und dessen Verfügungsmacht darüber (Art. 92 Abs. 2 Satz 2 nIPRG) ebenfalls dem Eröffnungsstatut unterstehen. Gemäß Botschaft IPRG 2020 ist unter Nachlassverwalter die behördlich angeordnete Nachlassabwicklung zu verstehen, wie die Abwicklung durch einen administrator nach common law oder durch einen "Nachlassverwalter" i.S.v. Art. 29 EuErbVo. Nicht erfasst ist der bloße Erbschaftsverwalter nach Art. 554 ZGB, dessen Aufgabenbereich sich auf sichernde Maßnahmen beschränkt. Diese Klarstellung ist insb. für Nachlassabwicklungen, die mit common-law-Ländern in Verbindung stehen, von praktischer Bedeutung: personal representatives und executors erwerben nach diesen Rechtsordnungen selbst Eigentum am Nachlass, was unter Schweizer Recht für den Willensvollstrecker nicht der Fall ist. Kann die Einsetzung eines Willensvollstreckers oder Nachlassverwalters in einem ausländischen Nachlassverfahren nach Art. 96 nIPRG anerkannt werden, bestimmt sich die Berechtigung am und die Verfügungsmacht über den Nachlass nach demjenigen Recht, das dieser Einsetzungsverfügung zugrunde liegt. Es wird daher stets zu prüfen sein, wo der ausländische Willensvollstrecker/Nachlassverwalter eingesetzt wurde.
Rz. 22
Infolge des Ineinandergreifens von formeller und materieller R...