Prof. Dr. Stephan Wolf, Andrea Dorjee-Good
I. Vorbemerkungen
Rz. 191
Mit seinem Ableben fällt der Erblasser als bisheriger Träger der seiner Person zugeordneten Rechte und Pflichten weg. Allerdings entsteht damit nach schweizerischem Recht nicht ein subjektloser Nachlass; vielmehr gewährleistet Art. 560 ZGB die unmittelbare Nachfolge der Erben in das Vermögen des Erblassers. Trotz dieser gesetzlich verankerten Unmittelbarkeit der Erbfolge und der daraus sich ergebenden Kontinuität in der Vermögensträgerschaft ist der Erbgang in mehrfacher Hinsicht mit Gefahren und Unsicherheiten verbunden. So kann über den Bestand des Nachlasses Unsicherheit vorliegen oder Streit ausbrechen, es können Vermögenswerte der Erbschaft verschwinden oder verderben und Erben ganz oder teilweise unbekannt sein. Auch die Erbberechtigung als solche kann umstritten sein.
Rz. 192
Der Gesetzgeber hat den für derartige Situationen bestehenden Regelungsbedarf erkannt und stellt ein verfahrensrechtliches Instrumentarium zur Verfügung, das einerseits die angesprochenen Unsicherheiten und Gefahren beheben oder doch zumindest beschränken soll und andererseits materiellrechtliche Streitigkeiten dem Zivilrichter zur Entscheidung überträgt. Entsprechend lässt sich für das Erbrecht in grundsätzlicher Hinsicht unterscheiden zwischen Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit und solchen der streitigen Gerichtsbarkeit.
II. Freiwillige Gerichtsbarkeit: die Sicherungsmaßregeln (Art. 551–559 ZGB)
1. Allgemeines und Grundsätze
Rz. 193
Die Sicherungsmaßregeln bezwecken die Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Abwicklung des Erbganges. Sie sollen sicherstellen, dass "kein Erbunrecht geschieht", sondern "die kraft Erbrechts Berufenen zu ihrem Recht kommen". Die Sicherungsmaßregeln des ZGB verfolgen mithin einen zivilrechtlichen Zweck. Sie werden allerdings häufig auch steuerrechtlichen Zwecken dienstbar gemacht; das gilt besonders für die Siegelung und das Inventar. Da die Sicherungsmaßregeln um der "öffentlichen Ordnung willen" aufgestellt worden sind, kommt den Bestimmungen der Art. 551–559 ZGB grundsätzlich zwingender Charakter zu, so dass weder der Erblasser noch die Erben eine andere Ordnung des Verfahrens verlangen können.
2. Zuständigkeit und Verfahren
Rz. 194
Örtlich zuständig zur Anordnung von Sicherungsmaßregeln ist die Behörde am letzten Wohnsitz des Erblassers (Art. 28 Abs. 2 ZPO). Im internationalen Verhältnis und damit namentlich für Erblasser mit letztem Wohnsitz im Ausland bestimmt sich die Zuständigkeit gem. Art. 86–89 IPRG. Besteht danach eine Zuständigkeit von schweizerischen Behörden, so ist auch für die Durchführung der Maßnahmen schweizerisches Recht maßgebend (Art. 92 Abs. 2 IPRG; in Bezug auf das anwendbare Recht erfährt die Ordnung eine Revision, vgl. für das neue Recht Art. 89 ff. nIPRG). Vorbehalten bleibt sodann die Zuständigkeit für vorsorgliche Maßnahmen gestützt auf Art. 10 IPRG.
Rz. 195
Die Festlegung der sachlichen Zuständigkeit erfolgt durch das kantonale Recht. Je nach Zuständigkeitsregelung durch den Kanton ist das zur freiwilligen Gerichtsbarkeit gehörende Verfahren auf Erlass von Sicherungsmaßregeln nach der Schweizerischen Zivilprozessordnung oder nach kantonalem Recht durchzuführen. Gegenstand von Sicherungsmaßregeln ist einzig die ordnungsgemäße Abwicklung des Erbganges, nicht aber der autoritative Entscheid von Streitigkeiten unter den Erbanwärtern über die materielle Rechtslage. Dieser ist vielmehr dem Zivilrichter vorbehalten. Den von den Sicherungsbehörden getroffenen Entscheiden, insbesondere auch den ausgestellten Erbenscheinen, kommt keine materielle Rechtskraft zu; vielmehr können sie abgeändert oder zurückgenommen werden, wenn ihr Grund nachträglich weggefallen ist, sie sich als unrichtig erweisen oder die Verhältnisse sich geändert haben.
Rz. 196
Die Rechtsmittel richten sich zunächst nach dem konkret anwendbaren Recht, d.h. nach der Zivilprozessordnung bzw. dem kantonalen Recht. Gegen den kantonal letztinstanzlichen Entscheid kann das Bundesgericht mit einer Beschwerde in Zivilsachen gem. Art. 72 ff. BGG angerufen werden, sofern die Angelegenheit als vermögensrechtliche qualifiziert und die Streitwertgrenze von 30.000 CHF (Art. 74 Abs. 1 lit. b BGG) erreicht wird. Sind die Voraussetzungen der Beschwerde in Zivilsachen nicht gegeben, steht die subsidiäre Verfassungsbeschwerde (Art. 113 ff. BGG) zur Verfügung.