Prof. Dr. Stephan Wolf, Andrea Dorjee-Good
1. Allgemeines und Grundsätze
Rz. 193
Die Sicherungsmaßregeln bezwecken die Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Abwicklung des Erbganges. Sie sollen sicherstellen, dass "kein Erbunrecht geschieht", sondern "die kraft Erbrechts Berufenen zu ihrem Recht kommen". Die Sicherungsmaßregeln des ZGB verfolgen mithin einen zivilrechtlichen Zweck. Sie werden allerdings häufig auch steuerrechtlichen Zwecken dienstbar gemacht; das gilt besonders für die Siegelung und das Inventar. Da die Sicherungsmaßregeln um der "öffentlichen Ordnung willen" aufgestellt worden sind, kommt den Bestimmungen der Art. 551–559 ZGB grundsätzlich zwingender Charakter zu, so dass weder der Erblasser noch die Erben eine andere Ordnung des Verfahrens verlangen können.
2. Zuständigkeit und Verfahren
Rz. 194
Örtlich zuständig zur Anordnung von Sicherungsmaßregeln ist die Behörde am letzten Wohnsitz des Erblassers (Art. 28 Abs. 2 ZPO). Im internationalen Verhältnis und damit namentlich für Erblasser mit letztem Wohnsitz im Ausland bestimmt sich die Zuständigkeit gem. Art. 86–89 IPRG. Besteht danach eine Zuständigkeit von schweizerischen Behörden, so ist auch für die Durchführung der Maßnahmen schweizerisches Recht maßgebend (Art. 92 Abs. 2 IPRG; in Bezug auf das anwendbare Recht erfährt die Ordnung eine Revision, vgl. für das neue Recht Art. 89 ff. nIPRG). Vorbehalten bleibt sodann die Zuständigkeit für vorsorgliche Maßnahmen gestützt auf Art. 10 IPRG.
Rz. 195
Die Festlegung der sachlichen Zuständigkeit erfolgt durch das kantonale Recht. Je nach Zuständigkeitsregelung durch den Kanton ist das zur freiwilligen Gerichtsbarkeit gehörende Verfahren auf Erlass von Sicherungsmaßregeln nach der Schweizerischen Zivilprozessordnung oder nach kantonalem Recht durchzuführen. Gegenstand von Sicherungsmaßregeln ist einzig die ordnungsgemäße Abwicklung des Erbganges, nicht aber der autoritative Entscheid von Streitigkeiten unter den Erbanwärtern über die materielle Rechtslage. Dieser ist vielmehr dem Zivilrichter vorbehalten. Den von den Sicherungsbehörden getroffenen Entscheiden, insbesondere auch den ausgestellten Erbenscheinen, kommt keine materielle Rechtskraft zu; vielmehr können sie abgeändert oder zurückgenommen werden, wenn ihr Grund nachträglich weggefallen ist, sie sich als unrichtig erweisen oder die Verhältnisse sich geändert haben.
Rz. 196
Die Rechtsmittel richten sich zunächst nach dem konkret anwendbaren Recht, d.h. nach der Zivilprozessordnung bzw. dem kantonalen Recht. Gegen den kantonal letztinstanzlichen Entscheid kann das Bundesgericht mit einer Beschwerde in Zivilsachen gem. Art. 72 ff. BGG angerufen werden, sofern die Angelegenheit als vermögensrechtliche qualifiziert und die Streitwertgrenze von 30.000 CHF (Art. 74 Abs. 1 lit. b BGG) erreicht wird. Sind die Voraussetzungen der Beschwerde in Zivilsachen nicht gegeben, steht die subsidiäre Verfassungsbeschwerde (Art. 113 ff. BGG) zur Verfügung.
3. Überblick über die einzelnen Sicherungsmaßregeln
a) Siegelung (Art. 552 ZGB)
Rz. 197
Mit der Siegelung soll der Nachlass vor tatsächlichen Veränderungen durch Erben oder Dritte gesichert werden. Ist – wie bei Bankguthaben bzw. Bankdepots oder Grundstücken – das eigentliche Anbringen von Siegeln nicht möglich, kann eine Verfügungssperre angeordnet werden.
b) Inventar (sog. Erbschaftsinventar, Art. 553 ZGB)
Rz. 198
Das Erbschaftsinventar bezweckt die Sicherung des Nachlasses durch behördliche Feststellung seines Bestandes. Dadurch soll verhindert werden, dass Erbschaftsgegenstände zwischen Erbgang und Erbteilung unbemerkt verschwinden.
Rz. 199
Das Erbschaftsinventar ist als Sicherungsmittel abzugrenzen vom öffentlichen Inventar (Art. 580 ff. ZGB). Die diesem eigenen Wirkungen insbesondere der Haftungsbeschränkung kommen dem Erbschaftsinventar nicht zu. Im Weiteren ist das Erbschaftsinventar abzugrenzen vom Steuerinventar, welches im Bundessteuerrecht sowie in den Steuergesetzen der meisten Kantone geregelt wird. Das Steuerinventar ist nicht zivilrechtliche Sicherungsmaßregel, sondern dient steuerrechtlichen Zwecken.
Rz. 200
Ein Erbschaftsinventar ist anzuordnen, wenn ein minderjähriger Erbe unter Vormundschaft steht oder zu stellen ist (Art. 553 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB), ein Erbe dauernd und ohne Vertretung abwesend...