Prof. Dr. Stephan Wolf, Andrea Dorjee-Good
1. Allgemeines
Rz. 109
Im Gegensatz zur derogierbaren Ordnung der gesetzlichen Erbfolge umfasst das Pflichtteilsrecht diejenigen Bestimmungen, die sich auch gegen abweichende Anordnungen des Erblassers durchsetzen lassen. Dem Pflichtteilsrecht kommt mithin zwingende Bedeutung zu, und die gebundene Quote bleibt der Verfügung des Erblassers entzogen in dem Sinne, als eine die Pflichtteile nicht beachtende Anordnung anfechtbar ist. Will der Erblasser trotz Vorhandenseins von Pflichtteilserben die volle Verfügungsfreiheit erlangen, muss er mit seinen sämtlichen Noterben einen Erbverzichtsvertrag abschließen, was in der Praxis nur selten möglich sein dürfte.
Rz. 110
Der Pflichtteil muss dem Berechtigten ungemindert, unbelastet, unbedingt und frei von Auflagen zu Eigentum zukommen. Ebenso unzulässig zu Lasten des Pflichtteils sind eine Nacherbeneinsetzung – allerdings unter Vorbehalt der Bestimmung von Art. 492a ZGB über urteilsunfähige Nachkommen (Art. 531 ZGB) – oder die Anordnung der Erbschaftsverwaltung auf Lebenszeit. Umstritten ist, ob der Pflichtteilsberechtigte – unter Vorbehalt der Enterbung, der Ausschlagung und des Erbverzichts – in jedem Fall Anspruch auf Einräumung der Erbenstellung hat.
Rz. 111
Der Erblasser kann einem Erben den Pflichtteil entziehen, wenn dieser den Familiengedanken in schwerwiegender Weise verletzt hat (Strafenterbung, Art. 477 ZGB), mit der Folge, dass seine Erbenstellung entfällt (Art. 478 Abs. 1 ZGB). Im Sinne einer sog. Präventiventerbung kann sodann einem überschuldeten Erben die Hälfte seines Pflichtteils entzogen werden (Art. 480 ZGB).
2. Pflichtteile und verfügbare Quote
Rz. 112
Pflichtteilsgeschützt sind nicht sämtliche gesetzlichen Erben, sondern nur die Nachkommen des Erblassers, seine Eltern und der überlebende Ehegatte bzw. der überlebende eingetragene Partner (Art. 470 Abs. 1 ZGB). Der Pflichtteil berechnet sich als Bruchteil des jeweiligen gesetzlichen Erbanspruchs: Er beträgt für Nachkommen drei Viertel, für Vater und Mutter je die Hälfte und für den überlebenden Ehegatten bzw. den überlebenden eingetragenen Partner ebenfalls die Hälfte (Art. 471 ZGB).
Rz. 113
Der Pflichtteil der Nachkommen umfasst drei Viertel der Pflichtteilsberechnungsmasse (Art. 474 ff. ZGB), wenn sie nicht mit dem überlebenden Ehegatten bzw. dem überlebenden eingetragenen Partner teilen müssen; andernfalls beträgt er drei Achtel. Für den überlebenden Ehegatten bzw. den überlebenden eingetragenen Partner, der weder zu Nachkommen noch zu Erben der zweiten Parentel in Konkurrenz steht, macht der Pflichtteil die Hälfte der Pflichtteilsberechnungsmasse aus. Sind Nachkommen vorhanden, beträgt der Pflichtteil des überlebenden Ehegatten bzw. des überlebenden eingetragenen Partners einen Viertel, während er sich bei einer Teilung mit Erben des elterlichen Stammes auf drei Achtel der Berechnungsmasse beläuft. Letztere sind in diesem Fall im Umfang von je einem Sechzehntel pflichtteilsgeschützt. Ist kein überlebender Ehegatte oder überlebender eingetragener Partner vorhanden, beträgt der Pflichtteil jedes Elternteils einen Viertel der Berechnungsmasse.
Rz. 114
Während die Summe der Pflichtteile die gebundene Nachlassquote bildet, versteht sich die verfügbare Quote – der Freiteil – als Differenz zwischen sämtlichen Pflichtteilen und dem Gesamtnachlass. Dabei handelt es sich allerdings nur um einen abstrakten Prozentsatz, der erst nach der Bestimmung der Berechnungsmaße konkrete Gestalt annimmt.
Rz. 115
Art. 473 ZGB erlaubt eine besondere Begünstigung des überlebenden Ehegatten, indem diesem anstelle des gesetzlichen Erbrechts die Nutznießung am ganzen Nachlass eingeräumt werden kann. Diese Möglichkeit besteht allerdings nur, wenn der überlebende Ehegatte mit gemeinsamen Nachkommen teilen muss. Anderen Miterben, insbesondere nicht gemeinsamen Kindern, ist ein solcher Eingriff in ihren Pflichtteil nicht zuzumuten. Darüber hinaus kann der Erblasser dem überlebenden Ehegatten die daneben bestehende verfügbare Quote von einem Viertel zu E...