Prof. Dr. Stephan Wolf, Andrea Dorjee-Good
1. Allgemeines
Rz. 112
Im Gegensatz zur derogierbaren Ordnung der gesetzlichen Erbfolge umfasst das Pflichtteilsrecht diejenigen Bestimmungen, die sich auch gegen abweichende Anordnungen des Erblassers durchsetzen lassen. Dem Pflichtteilsrecht kommt mithin zwingende Bedeutung zu, und die gebundene Quote bleibt der Verfügung des Erblassers entzogen in dem Sinne, als eine die Pflichtteile nicht beachtende Anordnung anfechtbar ist. Will der Erblasser trotz Vorhandenseins von Pflichtteilserben die volle Verfügungsfreiheit erlangen, muss er mit seinen sämtlichen Noterben einen Erbverzichtsvertrag abschließen, was in der Praxis nur selten möglich sein dürfte.
Rz. 113
Der Pflichtteil muss dem Berechtigten ungemindert, unbelastet, unbedingt und frei von Auflagen zu Eigentum zukommen. Ebenso unzulässig zu Lasten des Pflichtteils sind eine Nacherbeneinsetzung – allerdings unter Vorbehalt der Bestimmung von Art. 492a ZGB über urteilsunfähige Nachkommen (Art. 531 ZGB) – oder die Anordnung der Erbschaftsverwaltung auf Lebenszeit. Umstritten ist, ob der Pflichtteilsberechtigte – unter Vorbehalt der Enterbung, der Ausschlagung und des Erbverzichts – in jedem Fall Anspruch auf Einräumung der Erbenstellung hat.
Rz. 114
Der Erblasser kann einem Erben den Pflichtteil entziehen, wenn dieser den Familiengedanken in schwerwiegender Weise verletzt hat (Strafenterbung, Art. 477 ZGB), mit der Folge, dass seine Erbenstellung entfällt (Art. 478 Abs. 1 ZGB). Im Sinne einer sog. Präventiventerbung kann sodann einem überschuldeten Erben die Hälfte seines Pflichtteils entzogen werden (Art. 480 ZGB).
2. Pflichtteile und verfügbare Quote
Rz. 115
Pflichtteilsgeschützt sind nicht sämtliche gesetzlichen Erben, sondern nur die Nachkommen des Erblassers und der überlebende Ehegatte bzw. der überlebende eingetragene Partner (Art. 470 Abs. 1 ZGB). Der Pflichtteil berechnet sich als Bruchteil des jeweiligen gesetzlichen Erbanspruchs und beträgt für alle pflichtteilsberechtigten Erben die Hälfte des gesetzlichen Erbanspruchs (Art. 471 ZGB).
Rz. 116
Der Pflichtteil berechnet sich auf der Basis der sog. Pflichtteilsberechnungsmasse, wie sie sich aus den in Art. 474 ff. ZGB vorgesehenen Schritten ergibt. Mithin sind zum Nettonachlassvermögen die ausgleichungspflichtigen Zuwendungen (vgl. Art. 626 ZGB) hinzuzurechnen sowie weitere Zuwendungen unter Lebenden, soweit sie der Herabsetzungsklage unterstellt sind (siehe dazu die Aufzählung in Art. 527 ZGB). Der Pflichtteil der Nachkommen umfasst insgesamt ein Zweitel der Pflichtteilsberechnungsmasse (Art. 474 ff. ZGB), wenn sie nicht mit dem überlebenden Ehegatten bzw. dem überlebenden eingetragenen Partner teilen müssen; andernfalls beträgt er ein Viertel der Pflichtteilsberechnungsmasse. Für den überlebenden Ehegatten bzw. den überlebenden eingetragenen Partner, der zu Nachkommen in Konkurrenz steht, macht der Pflichtteil ein Viertel der Pflichtteilsberechnungsmasse aus, in Konkurrenz zu Erben des elterlichen Stammes drei Achtel und wenn keine Erben des elterlichen Stammes vorhanden sind, die Hälfte der Erbschaft.
Rz. 117
Während die Summe der Pflichtteile die gebundene Nachlassquote bildet, versteht sich die verfügbare Quote – der Freiteil – als Differenz zwischen sämtlichen Pflichtteilen und dem Gesamtnachlass. Dabei handelt es sich allerdings nur um einen abstrakten Prozentsatz, der erst nach der Bestimmung der Berechnungsmaße konkrete Gestalt annimmt.
Rz. 118
Art. 473 ZGB erlaubt eine besondere Begünstigung des überlebenden Ehegatten bzw. eingetragenen Partners, indem diesem anstelle des gesetzlichen Erbrechts die Nutznießung am ganzen Nachlass eingeräumt werden kann. Diese Möglichkeit besteht allerdings nur, wenn der überlebende Ehegatte bzw. eingetragene Partner mit gemeinsamen Nachkommen teilen muss. Anderen Miterben, insbesondere nicht gemeinsamen Kindern, ist ein solcher Eingriff in ihren Pflichtteil nicht zuzumuten. Darüber hinaus kann der Erblasser dem überlebenden Ehegatten bzw. eingetragenen Pa...