Rz. 38

Ähnlich wie die EuErbVO (Art. 35 EuErbVO) kennt auch das Schweizer IPR einen ordre public-Vorbehalt. Danach ist die Anwendung von Bestimmungen eines ausländischen Rechts ausgeschlossen, wenn sie zu einem mit dem schweizerischen ordre public unvereinbaren Ergebnis führen würde (sog. negativer ordre public; Art. 17 IPRG).[58]

 

Rz. 39

Der ordre public-Vorbehalt wird nur mit äußerster Zurückhaltung und unter folgenden Voraussetzungen angewendet:[59]

Es werden fundamentale Rechtsgrundsätze verletzt bzw. der fragliche Akt ist mit der schweizerischen Rechts- und Werteordnung unvereinbar.[60]
Das Ergebnis der Fremdrechtsanwendung ist stoßend, nicht der abstrakte Rechtssatz als solcher.
Es besteht eine hinreichende Binnenbeziehung des zu beurteilenden Sachverhalts zur Schweiz.
Das ausländische Recht ist offensichtlich mit dem ordre public der Schweiz unvereinbar.
Die Beurteilung zum heutigen Zeitpunkt ist maßgebend.
 

Rz. 40

Wenn die bloße Nichtanwendung der zu einem stoßenden Ergebnis führenden Norm zu einer Lücke führt, muss Ersatzrecht an die Stelle des eliminierten ausländischen Rechts treten. Das IPRG enthält aber dazu keine Regelung, so dass entweder die ausländische lex causae, die lex fori oder eine spezielle Sachnorm als Ersatzrecht herangezogen werden muss.[61]

 

Rz. 41

Für den Bereich des Erbrechts hat das Bundesgericht entschieden, dass das Fehlen eines Pflichtteilsrechts der Kinder gemäß englischem Recht nicht gegen den schweizerischen ordre public verstößt.[62] Weitere einschlägige Entscheide sind nicht ersichtlich.

 

Rz. 42

Einen weiteren Ausschluss der Anwendung des ausländischen Rechts sieht Art. 18 IPRG vor. Gemäß dieser Norm werden Bestimmungen des schweizerischen Rechts vorbehalten, denen wegen ihres besonderen Zwecks zwingend Geltung verschafft werden muss. Es handelt sich dabei um die den positiven ordre public umfassenden "lois d’application immédiate". Dazu gehören namentlich Normen, welche den wesentlichen Interessen der Gesellschaftsordnung bzw. der politischen oder wirtschaftlichen Ordnung Rechnung tragen.[63] Einen Anwendungsfall von Art. 18 IPRG stellt namentlich das Rechtsmissbrauchsverbot des Art. 2 Abs. 2 ZGB dar.[64]

 

Rz. 43

Schließlich sind die Möglichkeiten der Berücksichtigung zwingender Bestimmungen einer ausländischen Rechtsordnung gem. Art. 19 IPRG[65] sowie die Ausnahmeklausel von Art. 15 IPRG zu beachten. Letztere führt zur Nichtanwendbarkeit des berufenen ausländischen Rechts, wenn der Sachverhalt mit diesem Recht nach den gesamten Umständen offensichtlich in einem geringen, mit einem anderen Recht aber in viel engerem Zusammenhang steht.[66]

[58] Vgl. BGE 128 III 204.
[59] Dazu Siehr, S. 604 f.; Mächler-Erne/Wolf-Mettier, BSK-IPRG, Art. 17 IPRG Rn 10, 13; Buhr/Gabriel/Schramm, HandKomm, Art. 17 IPRG Rn 6 ff.; Heini, ZK-IPRG, Art. 17 IPRG Rn 33 ff.
[60] BGE 119 II 266; in einem neueren Entscheid (BGE 128 III 200) verwendet das Bundesgericht folgende Formulierung: "Dieser Vorbehalt [gemeint ist Art. 17 IPRG] greift erst ein, wenn das Ergebnis […] das einheimische Rechtsgefühl in unerträglicher Weise verletzt bzw. auf stoßende Weise Sinn und Geist der eigenen Rechtsordnung widerspricht."
[61] Vgl. Siehr, S. 607 f., m.w.N.
[62] BGE 102 II 136 ff.; dazu kritisch Bucher, S. 149 f., insb. mit dem Hinweis auf die durch diesen Entscheid zutage getretenen fragwürdigen Folgen einer professio iuris.
[63] BGE 138 III 750 E. 2.5; BGE 136 III 23 E. 6.6.1. Aus dem Schrifttum: Mächler-Erne/Wolf-Mettier, BSK-IPRG, Art. 18 IPRG Rn 10 ff.; Heini, ZK-IPRG, Art. 18 IPRG Rn 3 ff.
[64] BGE 128 III 201 ff. In Bezug auf das Verbot der Errichtung von Familienfideikommissen gem. Art. 335 Abs. 2 ZGB hält BGE 135 III 614 – in Abweichung von einem Teil der Lehre – fest, dass es sich nicht um eine "loi d‘application immédiate" handelt, welche die Anwendung ausländischen Rechts, das die Errichtung einer Familienunterhaltsstiftung für zulässig erklärt, verdrängen könnte (im konkreten Fall ging es um die Zulässigkeit einer liechtensteinischen Stiftung).
[65] BGE 138 III 489 E. 4; BGE 136 III 392 E. 2.3.
[66] Vgl. zur Kasuistik Mächler-Erne/Wolf-Mettier, BSK-IPRG, Art. 15 IPRG Rn 17 ff. sowie Art. 19 IPRG Rn 25 ff.

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