Orientierungssatz
1. Das noch nicht 25jährige, aber volljährige Kind, welches aufgrund der zum 1.7.2006 in Kraft getretenen Neuregelung des § 7 Abs 3 Nr 4 SGB 2 zur Bedarfsgemeinschaft gehört, kann einen eigenen Antrag auf Leistungen nach SGB 2 stellen. Durch diesen Antrag wird die Vermutung der Vertretung der Bedarfsgemeinschaft nach § 38 SGB 2 aufgehoben, so dass das Kind kraft Beteiligungsfähigkeit nach den §§ 10, 11 SGB 10 seinen trotz Mitgliedschaft in der Bedarfsgemeinschaft eigenständigen Leistungsanspruch geltend machen und gerichtlich durchsetzen kann.
2. Nach der bis zum 31.7.2006 geltenden Fassung von § 9 Abs 2 S 2 SGB 2 war den Stiefeltern nach einhelliger Auffassung der Landessozialgerichte nur in den Grenzen der Verwandtenhaftung des § 9 Abs 5 SGB 2 zur Unterstützung des Stiefkindes verpflichtet, sofern diese Unterstützungserwartung nicht widerlegt wurde. Daran hat sich mit der Neufassung von § 9 Abs 2 S 2 SGB 2 mWv 1.8.2006 nichts geändert. Denn zur Vermeidung einer ansonsten offensichtlich verfassungswidrigen Überspannung des Einkommenseinsatzes für das nichtleibliche Kind in der Bedarfsgemeinschaft muss die Vorschrift verfassungskonform so ausgelegt werden, dass zwar keine Widerlegung der Unterstützung möglich ist, die unwiderlegbare Unterstützungserwartung aber nach wie vor erst bei einem den Freibetrag des § 9 Abs 5 SGB 2 iVm § 1 Abs 2 AlgIIV übersteigenden Einkommen einsetzt.
3. Es ist kein sachlicher Grund dafür erkennbar, Stiefeltern oder gar Partner schlechter zu stellen als die gesteigert unterhaltspflichtigen Eltern. Der Einwand, dass das Existenzminimum über aufstockende Leistungen nach SGB 2 gesichert werde, greift nicht, da es gegen Art 1 GG verstößt, einen selbst nicht Hilfebedürftigen zum Empfänger einer Fürsorgeleistung zu machen.
4. Voller Einkommenseinsatz des Stiefelternteils/partners würde außerdem zu einer willkürlichen Schlechterstellung gegenüber Leistungsberechtigten nach SGB 12 führen.
5. Schließlich würde eine volle Einkommensanrechnung auch Art 6 GG verletzen, und zwar sowohl unter dem Gesichtspunkt einer familiensprengenden Einstandshaftung als auch eines Eingriffs in das Erziehungsrecht zum leiblichen Kind des Stiefelternteils/partners, das außerhalb der Bedarfsgemeinschaft lebt.
Gründe
I.
Der Antragsteller (Ast.) lebt mit seiner Mutter und deren Ehemann in einer gemeinsamen Wohnung zusammen. Er hatte nach Abschluss einer Ausbildung zunächst Alg I bezogen und wegen Fortdauer der Arbeitslosigkeit am 1.9.2005 Alg II beantragt. Letztmalig war ihm für den Bewilligungsabschnitt März bis August 2006 Alg II in Höhe von 345,- EUR Regelsatz plus 128,24 EUR (=1/3 der Gesamtmiete) Kosten der Unterkunft gewährt worden.
Seinen Fortzahlungsantrag wies der Antragsgegner (Ag.) mit der Begründung zurück, aufgrund einer seit dem 1.7.2006 geltenden Gesetzesänderung gehöre der Ast. als selbst nicht antrags-berechtigtes Kind zu der aus Mutter, Stiefvater und ihm gebildeten Bedarfsgemeinschaft (BG).
Hiergegen wandte die Mutter des Ast. ein, dass ihr Sohn weder von ihr noch dem Stiefvater irgendwelche Zuwendungen erhalte. Jeder wirtschafte notgedrungen für sich selbst, sie müsse mit dem schmalen Unterhalt ihres Mannes auskommen.
Nach Zugang eines an den Ast. gerichteten Ablehnungsbescheides vom 17.10.2006 mit der Begründung einer fehlenden Antragsbefugnis stellte die Mutter des Ast. einen Alg II-Antrag für den Ast ... Dieser Antrag ist noch unbeschieden.
Der Ast. wies den Ag. in einem Schreiben vom 1.11.2006 darauf hin, dass er völlig mittellos sei und daher schon wegen einer Notfallkostenübernahme vorgesprochen habe, worauf ihm eine Abschlagszahlung von 100,- EUR ausgezahlt wurde.
Am 12. Dezember 2006 hat der Ast. das Sozialgericht Berlin um einstweiligen Rechtsschutz angerufen; die ausbleibenden Leistungen hätten zu erheblichen Spannungen in der Familie geführt, da sein Stiefvater zu keiner Unterstützung bereit sei und seine Mutter über keine eigenen Einkünfte verfüge.
Nach Fax-Auskunft der Mutter des Ast. vom 20.12.2006 erzielt der Stiefvater ein monatliches Nettoeinkommen von 2000,- EUR, von dem seit 2002 Bankschulden in Höhe von 660,- EUR monatlich getilgt werden. Dazu kämen diverse Versicherungen (106,- EUR), eine Kreditrate für einen Autokauf im Jahr 2000 (110,- EUR) sowie die vom Stiefvater getragene Miete von 422,05 EUR.
II.
Der Eilantrag ist als Vornahmeantrag nach § 86 b Abs. 2 SGG zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang auch begründet. Dabei kann dahinstehen, ob in dem Schreiben des Ast. vom 1.11.2006 bei sachdienlicher Auslegung ein fristgerechter Widerspruch gegen den Bescheid vom 17.10.2006 gesehen werden kann; denn selbst wenn dies nicht so sein sollte, hinderte der Ablehnungsbescheid vom 17.10.2006 nicht an einer materiellrechtlichen Entscheidung über die Hilfebedürftigkeit bzw. einen Leistungsanspruch. Der Inhalt des Bescheides vom 17.10.2006 beschränkt sich nämlich auf die Behauptung, der Ast. sei als "Kind" der BG nicht antragsbefugt. Dies ist offensichtl...