Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Rechtshilfeersuchen. Zeugenvernehmung. Voraussetzungen für Wirksamkeit des Ersuchens. Angabe von Beweisfragen. Erforderlichkeit. bestehendes Zeugnisverweigerungsrecht. Klärung der Aussagebereitschaft

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein wirksames Rechtshilfeersuchen setzt voraus, dass das Ersuchen verständlich und ohne eingehende Befassung mit der Sach- und Rechtslage ausführbar ist; bei Ersuchen um Zeugenvernehmung müssen die Beweisfragen deutlich gemacht werden. Die Angabe des Beweisthemas genügt hierfür nicht.

2. Ein wirksames Rechtshilfeersuchen setzt ferner voraus, dass es erforderlich ist. Dies setzt zumindest voraus, dass das ersuchende Gericht bei einer im Inland befindlichen Zeugin die Anreisebereitschaft der Zeugin zum Ort des ersuchenden Gerichts erfragt und Weigerungsgründe prüft.

3. Das ersuchende Gericht muss vor einem Rechtshilfeersuchen die Aussagebereitschaft einer zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugin klären.

 

Tenor

Das Rechtshilfeersuchen des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 20. August 2019 an das Sozialgericht Berlin, die Zeugin K. E. entsprechend dem Beweisbeschluss der Richterin am Sozialgericht ….. in dem Verfahren ….. (….) vom ….. 2019 zu vernehmen, wird abgelehnt.

 

Gründe

I.

In dem Verfahren … (vormals …) begehrt die Klägerin von dem Beklagten Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) i. V. m dem Bundesversorgungsgesetz. Die Klägerin macht laut Klageschrift geltend, dass sie von jüngster Kindheit an bis in das Jahr 1992 von Familienangehörigen in schwerster Weise misshandelt und vergewaltigt worden ist.

In dem Termin zur mündlichen Verhandlung mit Beweisaufnahme am 27. Juni 2018 wurde u. a. beschlossen, dass die Klägerin die ladungsfähigen Adressen ihres Vaters, ihrer Mutter und ihrer Schwester ermitteln werde und diese dem Gericht mittelt. Diese Personen sollen dann als Zeugen vernommen werden. Die Klägerin werde darüber hinaus versuchen, die ladungsfähige Adresse ihres Onkels zu ermitteln. Mit Schreiben vom 16. August 2019 teilte die Klägerin dem Sozialgericht (SG) Frankfurt am Main u. a. die ladungsfähigen Anschriften ihrer Mutter, ihres Vaters, ihrer Schwester und ihres Onkels mit. Ohne Prüfung der Bereitschaft zur Anreise bzw. der Aussagbereitschaft der gemäß § 118 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i. V. m. § 383 Abs. 1 Nr. 3 Zivilprozessordnung (ZPO) zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugin (Schwester) erließ die Vorsitzende Richterin der 12. Kammer des SG Frankfurt am Main am 20. August 2019 die folgende Beweisanordnung:

„[…] soll gem. § 106 Sozialgerichtsgesetz – SGG – Beweis erhoben werden durch Vernehmung der Schwester der Klägerin, Frau K. E., ………….. Berlin, zur Frage der behaupteten sexualisierten Gewalt durch ihren Vater Herrn S.-E. (vgl. insbesondere Bl. 15-20 Verwaltungsakte).

Die tätliche Gewalt soll sich in den Jahren 1974 bis etwa 1992 zugetragen haben.

Die Vernehmung soll durchgeführt werden vom Sozialgericht Berlin.“

Mit Rechtshilfeersuchen vom gleichen Tag (Eingang beim SG Berlin am 22. August 2019) übersandte das SG Frankfurt am Main die Beweisanordnung, die Gerichtsakte nebst Beiakte sowie die Verwaltungsakte mit der Bitte um Erledigung binnen zehn Wochen an das SG Berlin. Eine Übersendung von konkreten Beweisfragen bzw. einer Darstellung der von der Klägerin konkret behaupteten Tatsachen erfolgte nicht.

II.

Das Rechtshilfeersuchen war gemäß § 5 Abs. 3 SGG i. V. m. § 158 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) abzulehnen. Gemäß § 5 Abs. 1 SGG leisten alle Gerichte, Verwaltungsbehörden und Organe der Versicherungsträger den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit Rechts- und Amtshilfe. Gemäß § 5 Abs. 3 GVG i. V. m. § 158 Abs. 1 GVG darf das Ersuchen grundsätzlich nicht abgelehnt werden. Nach § 5 Abs. 3 GVG i. V. m. § 158 Abs. 2 GVG ist das Ersuchen eines nicht im Rechtszuge vorgesetzten Gerichts jedoch abzulehnen, wenn die vorzunehmende Handlung nach dem Recht des ersuchten Gerichts verboten ist. Zwar liegt ein solches gesetzliches Verbot nicht vor, allerdings haben sich in der Rechtsprechung weitere Kategorien herausgebildet, die eine Zurückweisung des Rechtshilfegesuches gleichwohl erlauben (vgl. z. B. Oberlandesgericht (OLG) Koblenz, Beschluss vom 5. Mai 2008 – 4 SmA 14/08 –, juris). Ein wirksames Rechtshilfeersuchen erfordert, dass das Ersuchen verständlich und ohne eingehende Befassung mit der Sach- und Rechtslage ausführbar ist; bei Ersuchen um Zeugenvernehmung müssen die Beweisfragen deutlich gemacht werden (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 5, Rn. 3a). Die Durchführung der Rechtshilfe ist jedenfalls dann verboten, wenn der Beweisbeschluss keine hinreichenden Tatsachen enthält, über die der Rechtshilferichter eine Zeugenvernehmung durchführen könnte (Bundesarbeitsgericht (BAG) Beschluss vom 16. Januar 1991 - 4 AS 7/9 in NZA 1991, S. 364).

Das Rechtshilfeersuchen vom 20. August 2019 genügt den dargestellten Anforderungen nicht. Die Durchführung des Beweisbeschlusse...

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