Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für ausländische Staatsangehörige bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. kein Aufenthaltsrecht als nachziehender Familienangehöriger. Freizügigkeitsrecht. Europarechtskonformität. Gleichbehandlungsgebot

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein ausländischer Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats der Europäischen Union, der das 21. Lebensjahr bereits vollendet hat, hat kein über das aus § 2 Abs 2 Nr 1 Alt 2 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) hinausgehendes abgeleitetes Aufenthaltsrecht gem § 3 Abs 1 und Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004), wenn ihm lediglich Unterhalt durch den deutschen Stiefvater gewährt wird, aber seine Mutter nur aus § 2 Abs 2 Nr 1 Alt 2 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) freizügigkeitsberechtigt ist.

2. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 ist mit der unmittelbar geltenden und Anwendungsvorrang genießenden Vorschrift des Art 4 EGV 883/2004 unvereinbar, so dass § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 von Art 4 EGV 883/2004 verdrängt wird und daher nicht anwendbar ist.

 

Tenor

Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 12. Mai 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01. Juli 2011 (W …7/11) verurteilt, dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Zeit vom 21. April 2011 bis zum 08. August 2012 zu bewilligen.

Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit des Leistungsausschlusses des Klägers von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Der am … 1985 geborene Kläger ist Staatsangehöriger der Republik Polen. Er ist im April 2007 zum ersten Mal in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Im Mai 2007 hat seine Mutter, die ebenfalls polnische Staatsangehörige ist, in B… einen deutschen Staatsangehörigen geheiratet. Der Kläger ist mit seinem Bruder im November 2007 nach B… gezogen und wohnt seitdem dauerhaft in der Wohnung seiner Mutter und seines Stiefvaters. Er war - zumindest bis Mai 2010 - bei der AOK Berlin krankenversichert im Wege der Familienversicherung. Bis Juli 2010 hat der Kläger an den Wochenenden in Polen an der NEKS - Schulen in K…-Pommern studiert. Von Juni 2007 bis Mai 2010 bezog der Kläger über seine Mutter Kindergeld, ansonsten hat ihn sein Stiefvater, der vom 11. Mai 2010 bis 31. Dezember 2011 bei der Firma T… G… und seit dem 01. Januar 2012 bei der Firma L… L… erwerbstätig beschäftigt war bzw. ist, unterstützt, indem er ihm zum Teil Essen, Trinken, Kleidung und die Miete bezahlt hat.

Am 03. Juni 2010 stellte die Ausländerbehörde eine Bescheinigung gemäß § 5 FreizügG/EU aus, am 23. November 2010 erteilte die Agentur für Arbeit Berlin-Süd eine unbefristete Arbeitsgenehmigung-EU gemäß § 284 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III).

Den Leistungsantrag des Klägers vom 21. April 2011 wies der Beklagte mit Bescheid vom 12. Mai 2011 auf der Grundlage von § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II zurück, weil der Kläger lediglich ein alleiniges Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche habe.

Den dagegen gerichteten Widerspruch des Klägers vom 06. Juni 2011 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 01. Juli 2011 (W …/11) als unbegründet zurück. Er führte insoweit aus, dass der Kläger nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen sei, weil sich sein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche und insoweit aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 2. Alt. Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) herleite. Denn der Kläger habe sich bisher weder 5 Jahre ständig rechtmäßig in der Bundesrepublik aufgehalten, noch könne er sich auf ein Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger gemäß § 3 FreizügG/EU stützen, weil er bei seiner Einreise in die Bundesrepublik bereits 22 Jahre alt gewesen sei. Ferner habe der Kläger auch nicht durch eine Vorbeschäftigung in der Bundesrepublik den Arbeitnehmerstatus erlangt. Schließlich könne er sich nicht auf § 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) berufen, weil Polen das Fürsorgeabkommen nicht ratifiziert habe.

Mit der am 12. Juli 2011 erhobenen Klage verfolgt die Kläger sein auf Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende gerichtetes Begehren weiter. Er trägt insoweit vor, dass gegen die Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II europarechtliche Bedenken bestehen würden, so dass dieser europarechtskonform ausgelegt werden müsse. Darüber hinaus stünde ihm aufgrund der Unterhaltsgewährung durch seinen Stiefvater auch ein Aufenthaltsrechts als Familienangehöriger gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU zur Seite, so dass der Leistungsausschluss ohnehin nicht eingreife.

Der Kläger beantragt,

den Ablehnungsbescheid vom 12. Mai 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01. Juli 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm Leistungen nach dem SGB II ab Antragstellung in gesetzlicher Höhe zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er bezieht sich...

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