Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentenversicherung. Befreiung von der Versicherungspflicht. zugelassene Rechtsanwältin. Tätigkeit in einer Steuerberatungsgesellschaft. rückwirkende Befreiung auch für bereits beendete Arbeitsverhältnisse. auch Mindestbeiträge sind einkommensbezogene Pflichtbeiträge iS von § 231 Abs 4b S 4 SGB 6
Leitsatz (amtlich)
1. Auf welcher rechtlichen Grundlage der beklagte Rentenversicherungsträger über einen Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung entscheidet, ist nicht geeignet, den zur Entscheidung stehenden Lebenssachverhalt und damit den Streitgegenstand zu ändern. Der Umstand einer gesetzlichen Neuregelung, der eine neue Entscheidung über den Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht nach sich zieht, führt in Bezug auf die neue Entscheidung lediglich zu einer Abänderung bzw Ersetzung des ursprünglichen Verwaltungsakts, so dass ein Fall des § 96 SGG vorliegt.
2. Nach § 231 Abs 4b S 2 SGB 6 wirkt die rückwirkende Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung auch vom Beginn davor liegender Beschäftigungen an, wenn während dieser Beschäftigung eine Pflichtmitgliedschaft in einem berufsständischen Versorgungswerk bestand. Dieser Regelung ist zu entnehmen, dass die rückwirkende Befreiung auch für bereits beendete Arbeitsverhältnisse gelten soll, soweit eine Pflichtmitgliedschaft in einem berufsständischen Versorgungswerk bestand.
3. Der Umstand, dass lediglich Mindestbeiträge in das Versorgungswerk eingezahlt wurden, steht einem Antrag auf rückwirkende Befreiung von der Versicherungspflicht nicht entgegen. Denn auch dabei handelt es sich um einkommensbezogene Pflichtbeiträge iS von § 231 Abs 4b S 4 SGB 6.
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 27. März 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. April 2015 in der Fassung des Bescheides vom 23. Juni 2016 wird insoweit aufgehoben, wie es die Beklagte abgelehnt hat, die Klägerin für die von ihr vom 6. März 2014 bis 28. Februar 2015 ausgeübte Tätigkeit bei der R. GmbH & Co KG von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu befreien.
Die Beklagte wird verpflichtet, die Klägerin für die von ihr im vorgenannten Zeitraum ausgeübte und vorstehend bezeichnete Tätigkeit von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu befreien.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand
Streitig zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch der Klägerin auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung vor dem Hintergrund der von ihr ausgeübten Tätigkeit in einer Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatergesellschaft.
Die im Jahr 1985 geborene Klägerin hat ein rechtswissenschaftliches Studium sowie ein Rechtsreferendariat absolviert. Sie war vom 1. Januar 2014 bis 28. Februar 2015 bei der Steuerberatungsgesellschaft R. GmbH & Co. KG angestellt. Nach Aufnahme dieser Tätigkeit wurde sie am 28. Februar 2014 als Rechtsanwältin zugelassen. Aufgrund dieser Zulassung wurde die Klägerin Pflichtmitglied der Rechtsanwaltskammer Berlin sowie - insoweit am 6. März 2014 - des Versorgungswerkes der Rechtsanwälte in Berlin.
Am 10. März 2014 stellte sie bei der Beklagten einen Antrag auf Befreiung von der Versicherungspflicht für die von ihr ausgeübte abhängige Beschäftigung gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Sechstes Sozialgesetzbuch Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI).
Mit Bescheid vom 27. März 2014 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Es müsse ein innerer, “berufsspezifischer„ Zusammenhang zwischen der Tätigkeit, für die eine Befreiung von der Rentenversicherungspflicht begehrt werde, und dem Versicherungsschutz durch die berufsständische Versorgungseinrichtung bestehen. Bei einer Befreiung von der Rentenversicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI müssten die Antragsteller daher nicht nur Pflichtmitglieder in der berufsständischen Kammer und in der berufsständischen Versorgungseinrichtung sein, sondern auch eine dem Kammerberuf entsprechende berufsspezifische Tätigkeit - bei Anwälten also eine für einen Rechtsanwalt typische anwaltliche Berufstätigkeit - ausüben. Hieraus ergebe sich, dass nicht jede Beschäftigung den als zugelassenen Rechtsanwalt tätigen Juristen zur Ausübung des Befreiungsrechts berechtige, sondern nur diejenige Tätigkeit, die auch tatsächlich Merkmale einer anwaltlichen Tätigkeit aufweise. Als Kriterien für die Beschreibung einer anwaltlichen Tätigkeit hätten sich in Literatur und Rechtsprechung die Arbeitsfelder Rechtsberatung, Rechtsentscheidung, Rechtsgestaltung und Rechtsvermittlung herauskristallisiert. Anknüpfungspunkt sei dabei auch § 3 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO); hier werde der Bereich anwaltlicher Tätigkeit abgesteckt. Anwaltliche Tätigkeiten würden also dort ausgeübt, wo “Rechtsangelegenheiten„ anstünden.
Bei der Beschäftigung der Klägerin handele es sich um eine solche bei einem nicht anwaltlichen Arbeitgeber. Eine Befreiu...