Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen aG. außergewöhnliche Gehbehinderung. neue Rechtslage. Grad der Behinderung von 80. mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung. Mobilitätsbezug auch bei Funktionsbeeinträchtigung der Halswirbelsäule
Leitsatz (amtlich)
Nach neuer Rechtslage ab 30.12.2016 sind schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht.
Orientierungssatz
Auch Funktionsbeeinträchtigungen an der Halswirbelsäule können mobilitätsbezogen iS des § 146 Abs 3 SGB 9 sein.
Tenor
Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheids vom 26.2.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.8.2015 verpflichtet, bei der Klägerin ab 31.8.2016 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs mit Merkzeichen aG festzustellen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Beklagte trägt die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin das Merkzeichen aG zuzuerkennen ist.
Die schwerbehinderte Klägerin (vom Beklagten festgestellter Grad der Behinderung von 80) stellte am 13.11.2014 beim Beklagten einen Antrag auf Neufeststellung wegen der Verschlimmerung bestehender und des Hinzutretens neuer Behinderungen. Sie beantragte unter anderem die Zuerkennung des Merkzeichens aG.
Mit Bescheid vom 26.2.2015 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Anerkennung des Merkzeichens aG lägen nicht vor.
Im dagegen erhobenen Widerspruch vertiefte die Klägerin die Schilderung ihrer Leiden und berief sich auf die Angaben ihrer behandelnden Ärzte.
Mit Widerspruchsbescheid vom 26.8.2015 wies der Beklagte den Widerspruch unter Verweis auf die im Widerspruchsverfahren vorgenommenen medizinischen Ermittlungen zurück.
Mit ihrer Klage vom 15.09.2015 verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Zur Begründung führt sie im Wesentlichen an, sie sei schwerst gehbehindert. Es sei ihr nicht möglich, mehr als einige Schritte ohne Sitzpause zu bewältigen, wozu sie den Rollator benutze.
Das Gericht hat Befundberichte des Facharztes für Orthopädie, Chirurgie und Unfallchirurgie Dr. F., des Facharztes für Innere Medizin und Kardiologie Dr. L. sowie der Fachärztin für Allgemeinmedizin F.-S. eingeholt. Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens auf orthopädischem Fachgebiet. Der Sachverständige Dr. W.-R. gelangt in seinem Gutachten vom 16.1.2017 zu der Einschätzung, dass sich bei der Klägerin alle Veränderungen am Achsenorgan, an den unteren Extremitäten sowie hochgradige Lymphstauungen negativ auf die Fortbewegung bei der Klägerin auswirken. Die Veränderungen am Achsenorgan bewertet der Sachverständige mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50, die Veränderungen im Bereich der unteren Extremitäten mit einem GdB von 40 und die Lymphstauungen mit einem GdB von 10. Er kommt weiter zu dem Schluss, dass die festgestellten Behinderungen ab September 2016 dazu geführt haben, dass sich die Klägerin in Zukunft dauerhaft nur noch mit fremder Hilfe oder/und mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeugs bewegen kann.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 26.2.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.8.2015 zu verpflichten, bei ihr ab Antragstellung die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs mit Merkzeichen aG festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte ist der Auffassung, dass ein mobilitätsbezogener GdB von 80 bei der Klägerin nicht erreicht werde. Die Wirbelsäulenbehinderung betreffe das gesamte Achsenorgan, also auch die Halswirbelsäule, diese habe jedoch keinen Anteil am Zustandekommen des mobilitätsbezogenen GdB. Auch das mit Einzel-GdB von 10 bewertete Lymphödem erhöhe den mobilitätsbezogenen GdB nicht. Somit sei der mit 80 bewertete Gesamt-GdB, in denen weitere, nicht mobilitätsbezogene Behinderungen einflössen, nicht mit dem mobilitätsbezogenen GdB gleichzusetzen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Beklagtenakten verwiesen, die dem Gericht bei der Entscheidung vorlagen.
Entscheidungsgründe
Das Gericht konnte nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hiermit ihr Einverständnis erklärt haben.
Die Klage ist teilweise begründet. Die angefochtenen Bescheide sind ab 31.8.2016 rechtswidrig und verletzen die Klägerin insoweit in ihren Rechten. Die Klägerin hat ab diesem Zeitpunkt Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs mit Merkzeichen aG.
Anspruchsgrundlage für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen ist § 69 Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Hie...