Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Versorgung mit Medizinal-Cannabis. schwerwiegende Erkrankung. schwere Schmerzen. nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität auf Dauer. Einschätzungsprärogative des Vertragsarztes. Nebenher der Psycho- und Cannabistherapie

 

Leitsatz (amtlich)

1. Schwere Schmerzen können eine schwerwiegende Erkrankung darstellen, wenn sie die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigen (hier beruflicher und privater Rückzug).

2. Dem Vertragsarzt wird in § 31 Abs 6 S 1 Nr 1 Buchst b SGB V eine Einschätzungsprärogative eingeräumt. Die begründete Einschätzung des Vertragsarztes erstreckt sich auch auf das Nebenher der Psycho- und Cannabistherapie.

 

Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 3. April 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Oktober 2019 verurteilt, der Klägerin die Versorgung mit dem Fertigarzneimittel S. 3 x 10 ml zu genehmigen und sie nach vertragsärztlicher Verordnung damit zu versorgen.

Die Beklagte erstattet der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Versorgung der Klägerin mit Medizinal-Cannabis in Form des Fertigarzneimittels S.

Die bei der Beklagten krankenversicherte Klägerin leidet an einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, einem chronischem Spannungskopfschmerz, einer Migräne mit Aura, einer Zervikalneuralgie, schmerzhaften Myogelosen BWS, einem Kreuzschmerz/rechtseitiges LWS Syndrom, einem Morbus Bechterew, einer Depression, einer Fibromyalgie, einem Rheumatischen Formenkreis und einer chronischer Migräne.

Am 15. März 2019 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Versorgung mit Medizinal-Cannabis. Seit 2018 nehme sie an einer multimodalen Schmerztherapie teil. Sie habe viele Medikamente ausprobiert, mit Nebenwirkungen zu kämpfen gehabt. Ihre Schmerzen seien schlimmer geworden. Dem Antrag lagen zahlreiche ärztliche Stellungnahmen bei, auf die verwiesen wird. In einem ärztlichen Befundbericht von Dr. K. und Dr. J. vom S. Berlin wird erläutert, dass das chronische Leiden der Klägerin (viszerale Schmerzen, neurophathische Schmerzen der WS sowie der oberen/unteren Extremitäten) seit über 7 Jahren bestünde und mit einem sozialen Rückzug verbunden sei (Befundbericht vom 27. Februar 2019). Es bestünden Dauerschmerzen mit einer Intensität auf der Numerischen Analogskala von 7-8. Es seien alle Behandlungsversuche entsprechend der Leitlinien der AWMF getestet, für Einzelheiten wird auf den Befundbericht verwiesen. Entweder habe keine anhaltende Schmerzlinderung erzielt werden können, oder die Therapie habe wegen Nebenwirkungen abgebrochen werden müssen. Die Versorgung mit T. werde befürwortet.

Der von der Beklagten mit der Begutachtung beauftragte MDK sieht in dem Gutachten vom 26. März 2019 die beantragte Cannabistherapie nicht als indiziert. Eine schwerwiegende Erkrankung läge nicht vor. Die leitliniengerechte schmerztherapeutische sowie psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung mit Optimierung der antidepressiven Therapie sei ausreichend. Aufgrund der dokumentierten Wechselwirkung des chronischen Schmerzsyndroms mit der Depression im Sinne einer Verschlechterung des körperlichen und seelischen Befindens, sei eine psychotherapeutische Behandlung indiziert.

Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 3. April 2019 unter Verweis auf das MDK-Gutachten ab. Gegen die Ablehnung legte die Klägerin Widerspruch ein. Aufgrund eines Aufenthaltes in einer stationären schmerztherapeutischen Behandlung vom 10. bis 24. Juli 2019 ruhte das Widerspruchsverfahren. Während des Aufenthalts wurde probatorisch S. verabreicht. Im Entlassungsbericht vom 24. Juli 2019 wird aufgeführt, dass unter der S.therapie eine deutliche Schmerzlinderung, Schlafbesserung sowie Abnahme der Morgensteifigkeit habe erreicht werden können. Zur ambulanten Weiterbehandlung wurde die Behandlung mit Sativex empfohlen und die Aufnahme einer ambulanten Psychotherapie.

Nach Vorlage des Entlassungsberichts ergänzte der MDK sein Gutachten dahingehend, dass eine Indikation für eine Cannabistherapie weiter nicht bestünde, da zunächst eine psychotherapeutische Behandlung durchgeführt werden müsse (Gutachten vom 15. August 2019).

Mit Schreiben vom 26. September 2019 bestätigte Dr. J. vom S. Berlin nochmals, dass es unter der Therapie mit S. zu einer deutlichen Reduktion der bestehenden chronischen Schmerzzustände habe kommen können, und befürwortete die Versorgung.

Die Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 10. Oktober 2019 den Widerspruch unter Verweis auf die Gutachten des MDK als unbegründet zurück.

Die Klägerin ist der Auffassung, dass sie einen Anspruch auf die Versorgung mit Cannabis in Form von S. hat und verweist auf die vorgelegten Arztberichte.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 3. April 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Oktober 2019 zu verurteilen, der Klägerin die Kosten für die beantragte Cannabistherapie zu gewähre...

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