Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Gewährung einer befristeten Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung bei bisher nicht ausgeschöpften zumutbaren therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten
Leitsatz (amtlich)
1. Der Gewährung einer befristeten Rente wegen Erwerbsminderung gem § 43 SGB 6 steht nicht entgegen, dass bei dem Versicherten bisher nicht ausgeschöpfte zumutbare therapeutische Behandlungsmöglichkeiten bestehen (entgegen LSG München vom 18.1.2012 - L 20 R 979/09 = juris RdNr 36).
2. Die Versagung der Rentengewährung wegen Nichtausschöpfung zumutbarer therapeutischer Behandlungsmöglichkeiten ist nur unter den Voraussetzungen der §§ 63, 66 Abs 2 SGB 1 möglich. Die Voraussetzungen dieser verfahrensrechtlichen Versagungsvorschriften können nicht dadurch umgangen werden, dass im Falle der Nichtausschöpfung zumutbarer Behandlungsmaßnahmen der Begriff der Erwerbsminderung iS des § 43 SGB 6 ausgehöhlt wird und so der Rentenanspruch bereits auf materiell-rechtlicher Ebene verneint wird.
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 4. Juni 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. August 2014 wird abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung für den Zeitraum vom 1. Juni 2016 bis zum 28. Februar 2019 zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Klageverfahren trägt die Beklagte zur Hälfte. Hinsichtlich der notwendigen Aufwendungen des Klägers für das Vorverfahren haben die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Der 1962 in der Türkei geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und lebt seit 1998 in Deutschland. In der Türkei hatte er seinen Angaben zu Folge den Beruf des Eisenflechters erlernt und auch in Deutschland von 1998 bis 2000 ausgeübt. Von 2000 bis 2007 arbeitete er als Produktionsarbeiter bei S. in der Herstellung von Bildröhren. Hiernach war er von 2007 bis 2012 wieder als Eisenflechter auf dem Bau erwerbstätig. Von November 2012 bis März 2014 bezog er zunächst Krankengeld und im Anschluss hieran bis April 2015 Arbeitslosengeld I. Seit April 2015 bezieht er Arbeitslosengeld II. Mit Bescheid des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Berlin (LAGeSo) vom 4. Dezember 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. April 2015 ist bei ihm wegen einer Depression, einer Funktionsbehinderung des rechten Schultergelenkes, einer chronischen Bronchitis sowie eines Carpaltunnelsyndroms ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 anerkannt worden.
Am 5. März 2014 erfolgte eine Begutachtung des Klägers im Auftrag der Agentur für Arbeit Berlin Mitte durch das Sozialmedizinische Institut Wilmersdorf durch den ärztlichen Leiter Dipl.-Med. H.-W. P. sowie die Fachärztin für Physikalische und Rehabilitative Medizin Dr. I. S. -Z. Diese stellten in ihrem Gutachten bei dem Kläger Einschränkungen des Stütz- und Bewegungsapparates fest. Die Gutachter sahen jedoch ein vollschichtiges Leistungsvermögen für gelegentlich mittelschwere körperliche Tätigkeiten in überwiegend allen Haltungsarten unter Beachtung bestimmter weiterer qualitativer Leistungseinschränkungen gegeben.
Am 6. März 2014 stellte der Kläger bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung, weil er sich ausweislich der Anlage zu seinem Rentenantrag seit September 2012 wegen eines zerstörten rechten Schultergelenks nach einer Fraktur des rechten Oberarms für erwerbsgemindert hielt. Nach Beiziehung des von der Agentur für Arbeit veranlassten Gutachtens stellte die Medizinaldirektorin Dr. E. P. in ihrer prüfärztlichen Stellungnahme für den Sozialmedizinischen Dienst der Beklagten vom 27. Mai 2014 ein mehr als sechsstündiges Leistungsvermögen des Klägers für leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt fest.
Mit Bescheid vom 4. Juni 2014 lehnte die Beklagte daraufhin den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab. Insoweit könne der Kläger nach der medizinischen Beurteilung der Beklagten noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein. Demnach liege bei ihm keine Erwerbsminderung vor. Hierbei sei nicht zu berücksichtigen, ob der Kläger seine letzte berufliche Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen noch ausüben könne. Es komme lediglich darauf an, ob er irgendeine Tätigkeit ausüben könne, die es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gebe. Hiergegen legte der Kläger am 11. Juni 2014 Widerspruch ein, mit dem er um eine nochmalige Überprüfung seines Antrags sowie eine ärztliche Begutachtung bat.
Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens erstellte die Beklagte sodann ein “Ärztliches Gutachten für die gesetzliche Rentenversicherung„, welches als zweisprachiges Formulargutachten (TR 12) auch dem türkischen Versicherungsträger zur Verfügung gestellt we...