Entscheidungsstichwort (Thema)

Erwerbsminderungsrente. Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres. Rentenabschlag. Verfassungsmäßigkeit

 

Orientierungssatz

1. Die Vorschriften des § 77 Abs 2 SGB 6 sind dahingehend auszulegen, dass Erwerbsminderungsrenten nach dem 1.1.2004, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres in Anspruch genommen werden, auf Grund des geminderten Zugangsfaktors stets einem Abschlag von 10,8 vH unterliegen (Entgegen BSG vom 16.5.2006 - B 4 RA 22/05 R = BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3).

2. Eine Minderung des Zugangsfaktors für vor der Vollendung des 60. Lebensjahres bezogene Erwerbsminderungsrenten kann nicht zum Schutz der Rentenanwartschaft gemäß Art 14 GG führen, wenn zugleich eine Verlängerung der nicht beitragsgebundenen Zurechnungszeiten erfolgt.

3. Für die von der Kammer vertretene Auffassung spricht auch das Gesetz zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz - RVAltGrAnpG) vom 20.4.2007 (BGBl I 2007, 554). Aus dem Regelungsinhalt des Gesetzes und der Begründung ist erkennbar, dass die Auslegung des § 77 Abs 2 SGB 6 durch den 4. Senat des BSG gerade nicht dem Willen des Gesetzgebers des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (RRErwerbG) vom 20.12.2000 (BGBl I 2000, 1827) entspricht.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Anspruchs des Klägers auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung.

Die Beklagte bewilligte dem 1953 geborenen Kläger aufgrund eines Vergleichs vom 21.04.2004 mit Rentenbescheid vom 30.06.2004 ab dem 01.10.2001 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung in Höhe von 334,00 Euro (nach Abzug der Versicherungsbeiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung), längstens zahlbar bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres. Dabei legte die Beklagte zur Berechnung der persönlichen Entgeltpunkte einen Zugangsfaktor von 0,970 zu Grunde und begründete dies damit, dass sich der Zugangsfaktor für jeden Kalendermonat nach dem 30.04.2015 bis zum Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres um 0,003 vermindern würde. Danach betrage die Verminderung für 10 Kalendermonate 0,03. Angesichts der Summe aller Entgeltpunkte von 28,8507 würden daher die persönlichen Entgeltpunkte 27,9852 betragen (siehe Anlage 6 des Rentenbescheids vom 30.06.2004).

Am 06.10.2006 beantragte der Kläger die Überprüfung des Bescheides vom 30.06.2004 und machte geltend, dass bei der Berechnung der Erwerbsminderungsrente entsprechend dem Urteil des BSG vom 16.05.2006, Az. B 4 RA 22/05 R, ein Zugangsfaktor von 1,0 zugrunde zu legen sei. In § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI sei ausdrücklich geregelt, dass die Zeit des Bezuges einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gelte.

Den Antrag des Klägers wies die Beklagte durch Bescheid vom 05.02.2007 zurück. Es bestehe kein Anspruch auf die Rücknahme des Bescheides vom 30.06.2004 unter Berücksichtigung eines Zugangsfaktors in Höhe von 1,0. Gemäß der Regelung des § 77 Abs. 2 SGB VI sei bei Renten wegen Erwerbsminderung, welche vor Vollendung des 63. Lebensjahres des Versicherten beginnen würden, stets der Zugangsfaktor zu vermindern. Dies entspreche der ständigen Verwaltungspraxis der Beklagten. Der Entscheidung des BSG vom 16.05.2006 werde nicht gefolgt. Dagegen spreche das Gesetzgebungsverfahren zur Einführung des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000, bei dem alle Beteiligten davon ausgegangen seien, dass bei allen Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit mit einem Rentenbeginn vor dem 63. Lebensjahr des Versicherten Abschläge zu berücksichtigen seien.

Am 11.02.2007 legte der Kläger Widerspruch ein, mit dem sie sich erneut auf die Entscheidung des 4. Senats vom 16.05.2006 berief.

Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 06.03.2007 zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass gemäß der Regelung des § 77 Abs. 2 SGB VI bei Renten wegen Erwerbsminderung, welche vor Vollendung des 63. Lebensjahres des Versicherten beginnen würden, stets der Zugangsfaktor zu vermindern sei. Davon wären auch Entgeltpunkte aus vor Vollendung des 60. Lebensjahres bezogenen Renten erfasst. Diese Auslegung werde vor allem durch die Entstehungsgeschichte der Norm bestätigt. Der anders lautenden Entscheidung des 4. Senats des BSG vom 16. Mai 2006 (B 4 RA 22/05 R) könne nicht gefolgt werden.

Mit seiner Klage vom 12.03.2007 verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er bezieht sich auf das Urteil des BSG vom 16. Mai 2006 und ist der Ansicht, die ermittelten Entgeltpunkte seien mit dem unverminderten Zugangsfaktor 1,0 zu vervielfältigen, da die Vorschrift des § 77 Abs. 2 SGB VI einfachgesetzlich und unter Beachtung von Art. 14 GG dahingehend auszulegen sei, dass Abschläge bei einem Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung für Bezugszeiten vor Vollendung des 60.Lebensjahres nicht in Betracht kä...

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