Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Einkommensberücksichtigung. Unterhaltszahlungen und Vergütung aus Mini-, Schüler oder Studentenjob. zweckbestimmte Einnahme in Höhe von 20 %. Anwendung des Freibetrags für Ausbildungskosten. verfassungskonforme Auslegung. Berechnung des Zuschusses zu den Unterkunftskosten für Auszubildende nach § 27 Abs 3 SGB 2
Orientierungssatz
1. Soweit nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl BSG vom 17.3.2009 - B 14 AS 63/07 R = SozR 4-4200 § 11 Nr 21) 20 vH der nach dem BAföG insgesamt als bedarfsdeckend angesehenen Leistungen der Ausbildungsförderung als zweckbestimmt für die nicht zum allgemeinen Lebensunterhalt zählenden Ausbildungskosten (Lernmittel, Fahrkosten, Studiengebühren etc) anzusehen sind, kann aus Gleichbehandlungsgrundsätzen für Unterhalt, der anstelle von BAföG gezahlt wird, nichts anderes gelten.
2. Der § 1 BAföG zugrunde liegende Rechtsgedanke, dass der Freibetrag nach § 11b Abs 3 SGB 2 für Ausbildungskosten einzusetzen ist, trifft gleichermaßen für Einkommen aus Schüler- oder Studentenjobs zu.
3. Der Unterkunftskostenzuschuss nach § 27 Abs 3 SGB 2 kann nicht mit Verweis auf eine Vorausleistung des BAföG-Fördersatzes verwehrt werden; denn die Vorausleistung nach § 36 BAföG ist keine Ausbildungsförderungsleistung, auf die der Auszubildende nach den allgemeinen Regelungen über die Anrechnung von Einkommen und Vermögen einen Anspruch hat. Es handelt sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl BVerwG vom 23.2.2010 - 5 C 2/09 = BVerwGE 136, 109) vielmehr um "außerordentliche" Zusatzleistungen zur Abwendung der Gefahr eines Ausbildungsabbruchs infolge aktueller Mittellosigkeit.
Tenor
1. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 14.3.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.6.2011 verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 23.8. bis zum 31.8.2010 52,31 € Alg II und für die Zeit vom 1.9. bis zum 30.9.2010 174,38 € Alg II zu gewähren.
2. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 14.3.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.6.2011verurteilt, der Klägerin für April 2011 einen Mietzuschuss nach § 27 Abs. 3 SGB II in Höhe von 224,51 € monatlich und für die Monate Mai bis August 2011 in Höhe von jeweils 218,45 € zu gewähren.
3. Der Bescheid vom 29.6.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.7.2011 wird aufgehoben
4. Der Beklagte hat die Hälfte der außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Streitig sind Ansprüche auf Alg II und - seit April 2011 - den Mietzuschuss nach § 27 Abs. 3 SGB II.
Die im Juni 1989 geb. Klägerin bezog im März 2009 zusammen mit einer weiteren Person erstmals eine eigene Wohnung. Seinerzeit absolvierte sie ein freiwilliges soziales Jahr mit einem monatlichen Taschengeld von 265 €. Außerdem überwies ihr die Mutter monatlich 160 € des für die Klägerin gezahlten Kindergeldes.
Im September 2009 begann die Klägerin eine Ausbildung an einer Fachschule (Oberstufenzentrum), die voraussichtlich im Juli 2012 endet. Das BAföG-Amt anerkannte bis September 2010 nur einen Grundanspruch von 212 €, weil die Klägerin die Schule vom Elternhaus in zumutbarer Zeit erreichen könne. Zu einer Auszahlung der Förderleistung kam es nicht, weil das nach §§ 21 ff BAföG anzurechnende Elterneinkommen den BAföG-Bedarfssatz überstieg.
Am 10.9.2009 beantragte die Klägerin Alg II, das anfangs mit der Begründung, die Klägerin unterliege einem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II, abgelehnt worden war. Auf ihren Widerspruch bewilligte der Beklagte für den Zeitraum vom 10.9.2009 bis 28.2.2010 Alg II unter Prüfung eines Unterhaltsanspruchs gegen die Eltern der Klägerin.
Nachdem zunächst ein Unterhaltsanspruch von 465 € (640 € unterhaltsrechtlicher Ausbildungsbedarf abzüglich 184 € Kindergeld) zu Grunde gelegt worden war, korrigierte der Beklagte den nach § 1610 BGB zustehenden Unterhaltsanspruch im November 2010 auf 108 € zuzüglich Kindergeld.
Den Fortzahlungsantrag der Klägerin für den Zeitraum März bis August 2010 hatte der Beklagte trotz eines auf BSG vom 21.12.2009 - B 14 AS 61/08 R gestützten Widerspruchs erneut unter Hinweis auf einen Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II abgelehnt.
Im Juni 2010 bezog die Klägerin, die Mitte März 2010 einen 400 €-Job aufgenommen hatte, wegen Räumung der im März 2009 angemieteten Wohnung eine neue Wohnung. Hauptmieterin dieser 1-Raum Wohnung mit einer monatlichen Miete von 260,85 € zuzüglich Abschlägen für eine Gasetagenheizung ist die Mutter der Klägerin, die die Wohnung mit Einverständnis des Vermieters im Rahmen eines Untermietvertrages (Mietzins = 260,85 €) der Klägerin überlässt. Der Vertrag mit dem Gasversorger läuft über die Klägerin.
Einen als Neuantrag gewerteten Alg II-Antrag der Klägerin vom 23.8.2010 lehnte der Beklagte zum wiederholten Mal mit Verweis auf § 7 Abs. 5 SGB II ab, den dem Ablehnungsbescheid vom 6.9.2010 beigefügten Antrag auf einen Mietzuschuss nach § 22 Abs. 7 SGB II (Fassung 2010) hielt der Beklagte entgeg...