Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeld II. Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung. Laktoseintoleranz

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine genetisch bedingte, ausgeprägte Laktoseintoleranz begründet einen Mehrbedarf nach § 21 Abs 5 SGB 2.

2. Die Höhe des Mehrbedarfs muss ernährungswissenschaftlich, nicht medizinisch ermittelt werden, wenn keine zusätzlichen Erkrankungen mit Auswirkung auf die Ernährung vorliegen.

3. Vorzugswürdig ist eine statistische Erfassung des Mehrbedarfs, die methodisch der Bemessung der Regelbedarfe entspricht.

 

Tenor

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 16.3.2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.6.2015 verurteilt, dem Kläger in der Zeit vom 1.3.2015 bis zum 29.2.2016 monatlich 18 € als Mehrbedarf für Krankenkost zu gewähren.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Der Beklagte erstattet die Hälfte der außergerichtlichen Kosten.

Die Berufung wird zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist ein Mehrbedarf für Krankenkost nach § 21 Abs. 5 SGB II wegen einer Laktoseintoleranz.

Nach Beendigung eines Anspruchs auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zum 1.3.2015 bezieht der Kläger seitdem laufend Leistungen nach dem SGB II. Als Empfänger von AsylbLG-Leistungen hatte er wegen einer Laktoseintoleranz einen Mehrbedarf für Ernährung (Vollkost) in Höhe von monatlich 39,10 € erhalten.

Als SGB II-Leistung für den Bewilligungsabschnitt Januar 2015 bis Februar 2016 wurden ihm nur der Regelbedarf nach § 20 SGB II plus Unterkunfts- und Heizkosten bewilligt (Bescheid vom 16.2.2015).

Einen am 16.2.2015 ausdrücklich gestellten Antrag auf Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 5 SGB II lehnte der Beklagte unter Verweis auf eine “Überprüfung„ des Bescheides vom 16.2.2015 ab; Vollkost begründe keinen Mehrbedarf, sie könne aus dem Regelbedarf bestritten werden (Bescheid vom 16.3.2015).

Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch und machte unter Vorlage des Antragsformulars MEB einen Mehrbedarf wegen einer ärztlich bescheinigten Laktose- und Histaminintoleranz geltend.

Unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme des ärztlichen Dienstes der BA wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Bei einer Laktoseintoleranz falle kein Mehrbedarf für eine besondere Krankenkost an; es genüge eine Ernährung mit laktosefreien Produkten, die keine zusätzlichen Kosten verursache (Widerspruchsbescheid vom 23.6.2015).

Mit am 9. Juli 2015 beim Sozialgericht Berlin erhobener Klage macht der Kläger geltend, er könne die zur Gesunderhaltung notwendige Ernährung nicht aus dem Regelbedarf bestreiten. Laktosefreie Lebensmittel seien teurer als vergleichbare Produkte aus dem Discounter.

Die Bevollmächtigte des Klägers beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 16.3.2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.6.2015 zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit vom 1.3.2015 bis zum 29.2.2016 einen Mehrbedarf wegen aufwändiger Ernährung in Höhe von 10% des maßgebenden Regelbedarfs zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat von dem behandelnden Arzt des Klägers einen Befundbericht sowie eine ergänzende Auskunft eingeholt, wonach bei dem Kläger eine genetisch bedingte, ausgeprägte Laktoseintoleranz besteht. Wegen der Einzelheiten wird auf die Arztbriefe Bezug genommen.

Zur Frage, ob die Ernährung erwachsener Personen mit einem Laktasemangel einen finanziellen Mehrbedarf gegenüber dem Regelbedarf für Ernährung und Getränke erfordert, hatte das Gericht in einem anderen Verfahren ein Gutachten in Auftrag gegeben, das den Beteiligten nebst der dazu erstellten Studie “Ausgaben für Lebensmittelwarenkörbe mit unterschiedlichen ernährungsphysiologischen Qualitäten„ zur Auswertung im hiesigen Verfahren bekannt gegeben wurde.

Zum übrigen Sach- und Streitstand wird ergänzend auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, die beigezogene Leistungsakte, die ärztlichen Bescheinigungen sowie das Gutachten von Frau Dr. T verwiesen.

Die Beteiligten haben sich mit einer schriftlichen Entscheidung nach § 124 SGG einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Das Gericht konnte nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hiermit ihr Einverständnis erklärt haben.

Streitgegenstand ist allein ein Anspruch des Klägers auf Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung nach § 21 Abs. 5 SGB II, der jedenfalls in Bedarfsgemeinschaften ohne horizontal zu verteilendes Einkommen, wie hier, als abgrenzbarer Teil des Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes eigenständig geltend gemacht werden kann (vgl. dazu LSG Sachsen vom 27.8.2009 - L 3 AS 245/08; SG Berlin vom 4.1.2010 - S 128 AS 37434/08).

Zu Recht hat der Kläger im Klageantrag trotz der generellen Ablehnung eines Mehrbedarfs im Bescheid vom 16.3.2015 auf den Bewilligungsabschnitt März 2015 bis Februar 2016 Bezug genommen, weil der Beklagte unter der irreführenden Bezeichnung einer “Überprüfung„ nur über...

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