Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Europarechtswidrigkeit. Gleichbehandlungsgebot. keine Sozialhilfe iS des Art 24 Abs 2 EGRL 38/2004

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 verstößt gegen Art 4 EGV 883/2004 und ist daher europarechtswidrig.

2. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes sind keine Sozialhilfeleistungen iS von Art 24 Abs 2 EGRL 2004/38 (juris: EGRL 38/2004).

 

Tenor

Der Beklagte wird verpflichtet unter Aufhebung des Bescheides vom 10.02.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.05.2012 den Klägern für den Zeitraum vom

01.02.2012 bis 30.04.2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch II in gesetzlicher

Höhe zu bewilligen und auszuzahlen.

Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II.

Die Klägerin zu 1. ist rumänische Staatsangehörige und Mutter der Klägerin zu 2. Diese ist türkische Staatsangehörige. Gemeinsam mit dem Ehemann bzw. Vater, der ebenfalls die türkische Staatsangehörigkeit besitzt, reisten die Kläger im August 2010 in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein. Während des Aufenthaltes im Bundesgebiet trennten sich die Klägerin zu 1. und ihr Ehemann voneinander. Dieser ist unbekannt verzogen. Nach eigenen Angaben war die Klägerin zu 1. bis zum 30.06.2011 bei ihrem Ehemann sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Eine spätere Arbeitsaufnahme als Reinigungskraft bei der Firma H. zum 01.12.2011 scheiterte daran, dass der Klägerin zu 1. keine Arbeitsgenehmigung seitens der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung (im Folgenden: ZAV) erteilt wurde. Der Beklagte bewilligte den Klägerinnen bis zum 31.01.2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II. Am 03.01.2012 stellten die Klägerinnen einen Weiterbewilligungsantrag für den Zeitraum ab dem 01.02.2013. Mit Bescheid vom 10.02.2012 lehnte der Beklagte diesen ab. Die Klägerin zu 1. besitze keinen Arbeitnehmerstatus mehr. Dieser sei ihr sechs Monate lang erhalten geblieben. Dieser Zeitraum sei nunmehr erschöpft. Mit Schreiben vom 20.02.2012 legten die Klägerinnen gegen den Bescheid Widerspruch ein. Sie seien nicht von Leistungen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen, da diese Vorschrift gegen das Europäische Fürsorgeabkommen (im Folgenden: EFA) verstoße. Die Klägerin zu 1. habe einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II über ihre Tochter, die Klägerin zu 2. bzw. über ihren türkischen Ehemann. Schließlich sei auch die Türkei dem EFA beigetreten.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10.05.2012 als unbegründet zurück. Das Aufenthaltsrecht der Klägerin zu 1. ergebe sich aus dem Zweck der Arbeitsuche, denn sie sei weder als Arbeitnehmerin noch als Selbständige noch als Nicht- Erwerbstätige freizügigkeitsberechtigt. Letzteres entfalle, da sie nicht aus eigenen Mitteln ihren Lebensunterhalt bestreiten könne. Das EFA greife nicht, da dieses nicht von Rumänien unterzeichnet worden sei. Im Falle der Klägerin zu 2. sei dieses zwar anwendbar. Allerdings habe diese das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet, so dass ein Leistungsanspruch bereits nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II ausgeschlossen sei. Als Familienangehörige der Klägerin zu 1. falle für sie auch die Prüfung nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II negativ aus.

Bereits am 09.05.2012 erteilte die ZAV der Klägerin zu 1. eine Arbeitsgenehmigung-EU für eine Tätigkeit als Dolmetscherin. Tatsächlich nahm die Klägerin zu 1. zum 15.05.2012 ein entsprechendes befristetes Arbeitsverhältnis am 15.05.2012 auf. Am 25.05.2012 beantragten die Klägerinnen erneut Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II bei dem Beklagten. Dieser bewilligte diese mit Bescheid vom 04.06.2012 für den Zeitraum vom 01.05.2012 bis 31.10.2012.

Am 14.06.2012 haben die Klägerinnen beim Sozialgericht Bremen gegen den Widerspruchsbescheid vom 10.05.2012, ihnen zugestellt am 14.05.2012, Klage erhoben. Sie wiederholen und vertiefen im Wesentlichen ihren Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren.

Die Klägerinnen beantragen,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 10.02.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.05.2012 zu verpflichten, den Klägerinnen für den Zeitraum vom 01.02.2012 bis 30.04.2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch II in gesetzlicher Höhe zu bewilligen und auszuzahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Auch er wiederholt im Wesentlichen seinen Vortrag aus dem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren.

Hinsichtlich des hier streitigen Zeitraumes haben die Klägerinnen am 16.02.2012 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Bremen gestellt, welcher unter dem Az. geführt worden ist. Mit Beschluss vom 08.03.2012 hat das...

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