Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweiliger Rechtsschutz. Sozialhilfe. Hilfe zur Pflege. Unterbringung in ambulanter oder stationärer Einrichtung. Zumutbarkeit. Abwägung. Amtsermittlungspflicht des Sozialhilfeträgers. Beweislast. drohender gesundheitlicher Schaden bei Umzug in stationäre Einrichtung. darlehensweise Kostenübernahme bis zur Entscheidung in der Hauptsache
Leitsatz (amtlich)
1. Das Merkmal der Zumutbarkeit der Leistung für eine stationäre Einrichtung iS von § 13 Abs 1 S 3 SGB 12 verlangt eine individuelle Abwägung von Nutzen und Gefahren für den im einzelnen Betroffenen.
2. Legt der Antragsteller medizinische Befunde behandelnder Ärzte vor, die die Zumutbarkeit der stationären Unterbringung in Frage stellen, genügt der Sozialhilfeträger seiner Amtsermittlungspflicht nur, wenn er eigene Ermittlungen zB in Form der Einholung von Sachverständigengutachten anstellt. Die Beweislast dafür, dass die Leistung für eine geeignete stationäre Einrichtung zumutbar ist, trägt der Sozialhilfeträger.
3. Zieht der Antragsteller in eine ambulante Einrichtung und würde nach längerer dortiger Unterbringung bei Umzug in eine stationäre Einrichtung ein gesundheitlicher Schaden drohen, hat der Sozialhilfeträger nach Abwägung der widerstreitenden Interessen zumindest darlehensweise die Kosten bis zur Entscheidung der Hauptsache zu tragen, wenn er zuvor seine Amtsermittlungspflicht verletzt hat.
Orientierungssatz
Nach § 9 Abs 2 S 3 SGB 12 hat der Sozialhilfeträger einen Kostenvergleich zwischen der gewünschten Leistung und anderen geeigneten und zumutbaren Hilfeangeboten vorzunehmen. Fallen wunschbedingte Mehrkosten an, erschöpft sich die Frage nach ihrer (Un-)Verhältnismäßigkeit nicht in einem rein rechnerischen Kostenvergleich. Die Verhältnismäßigkeit betrifft die Relation zwischen der gewünschten Gestaltung der Hilfe und den damit verbundenen Mehrkosten. Die Mehrkosten dürfen zum angestrebten Verwendungszweck nicht außer Verhältnis stehen. Der Mehrkostenvorbehalt in § 9 Abs 2 S 3 SGB 12 verlangt eine wertende Betrachtungsweise. Zu berücksichtigen ist vor allem das Gewicht, das der vom Leistungsberechtigten gewünschten Gestaltung der Hilfe im Hinblick auf seine individuelle Notsituation beizumessen ist. Dabei sind alle Besonderheiten des Einzelfalles in den Blick zu nehmen. Je größer die Bedarfsnähe der gewünschten Hilfegestaltung ist, um so “berechtigter„ kann der Wunsch des Leistungsberechtigten sein (vgl LSG Berlin-Potsdam vom 16.12.2005 - L 23 B 1086/05 SO ER).
Tenor
1. Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens vor dem Sozialgericht Darmstadt - Aktenzeichen S 17 SO 121/08 - die ungedeckten Kosten der Pflege der Antragstellerin in der Wohngemeinschaft für Demenzkranke in der A-Straße, A-Stadt darlehensweise ab 10.02.2009 zu übernehmen.
2. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die ihr entstandenen außergerichtlichen Kosten des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu erstatten.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten in der Hauptsache um die Übernahme von ungedeckten ambulanten Pflegekosten in einer Demenz-WG.
Die 1921 geborene Antragstellerin leidet unter einer Demenzerkrankung und lebt seit 1.3.2008 in einer sog Demenz-WG in der A-Straße in A-Stadt, in der sie durch einen ambulanten Pflegedienst gepflegt wird.
Bis Ende Februar 2008 lebte die Antragstellerin in ihrer eigenen Wohnung und wurde von einem ambulanten Pflegedienst gepflegt. Die hierbei entstehenden monatlichen Kosten von ca. 3.000,00 € wurden im Rahmen der ambulanten Hilfe zur Pflege von der Antragsgegnerin übernommen. Die Antragstellerin ist seit dem 01.08.2006 in die Pflegestufe II eingestuft, durch Bescheid vom 02.02.2009 der AOK Pflegeversicherung wurde die Antragstellerin rückwirkend zum 01.07.2008 in die Pflegestufe III eingestuft. Durch ihre Betreuerin beantragte die Antragstellerin mit Schreiben vom 12.01.2008 bei der Antragsgegnerin einem Umzug in die Demenz-WG A-Straße zuzustimmen und die ungedeckten Kosten zu übernehmen, weil ein weiterer Verbleib in der eigenen Wohnung nicht mehr möglich sei. Hierzu legte die Antragstellerin ein ärztliches Attest vom 14.02.2008 des Hausarztes der Antragstellerin vor (Blatt 22 der Gerichtsakte).
Durch Bescheid vom 06.03.2008 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Übernahme der Kosten in der Demenz-WG ab und begründete dies damit, dass eine vollstationäre Unterbringung in einem Alten- bzw. Pflegeheim zumutbar sei und die dadurch entstehenden ungedeckten Kosten in Höhe von 555,50 € deutlich niedriger als die bei der Unterbringung in einer Demenz-WG von monatlich 2.475,60 € ausfielen. Der hiergegen bei der Antragsgegnerin am 25.03.2008 eingegangene Widerspruch der Antragstellerin wurde mit Widerspruchsbescheid vom 10.07.2008 mit der wesentlichen Begründung als unbegründet zurückgewiesen, dass der Aufenthalt der nun 87-jährigen Antragstellerin in einem der vorgeschlagenen Alten- und Pflegeheimen zumutbar sei, zumal es sich bei den...