Entscheidungsstichwort (Thema)
Schätzung des Arbeitsentgelts zur Ermittlung des Gesamtsozialversicherungsbeitrags bei Verstoß des Arbeitgebers bei Arbeitnehmerüberlassung
Orientierungssatz
1. Für den Bereich der Arbeitnehmerüberlassung ist entsprechend dem equal-pay-Prinzip der Gesamtsozialversicherungsbeitrag für beschäftigte Leiharbeitnehmer nach demjenigen Arbeitsentgelt zu bemessen, das vergleichbaren Arbeitnehmern in den Betrieben der jeweiligen Entleiher gezahlt wird.
2. Der Beitragsanspruch des Versicherungsträgers entsteht nach § 22 Abs. 1 S. 1 SGB 4 unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer das Arbeitsentgelt verlangt hat oder es rechtlich noch verlangen könnte (Anschluss BSG Urteil vom 3. 6. 2009, B 12 R 12/07 R).
3. Hat für den Arbeitgeber objektiv Anlass dazu bestanden, das beitragspflichtige Arbeitsentgelt nach dem Grundsatz des equal pay aufzuzeichnen und die entsprechenden Entgeltunterlagen aufzubewahren, hat er aber seine Aufzeichnungspflicht objektiv verletzt, wobei es auf ein Verschulden nicht ankommt, so ist der Versicherungsträger nach § 28 f Abs. 2 SGB 4 berechtigt, die Höhe der Arbeitsentgelte zu schätzen und den Gesamtsozialversicherungsbeitrag im Wege eines Lohnsummenbescheides geltend zu machen.
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 21.11.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.04.2012 wird aufgehoben, soweit die Beklagte Nachforderungen für die Zeit vom 01.12.2005 bis zum 31.12.2006 geltend macht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin zu drei Vierteln, die Beklagte zu einem Viertel.
Der Streitwert wird auf 110.262,75 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen für den Zeitraum vom 01.12.2005 bis zum 31.12.2009 aufgrund einer Betriebsprüfung nach § 28p Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) streitig.
Die Klägerin ist ein Unternehmen mit dem Geschäftsgegenstand der gewerblichen Arbeitnehmerüberlassung und im Besitz einer Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis nach § 1 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG). Im streitigen Zeitraum wandte die Klägerin bei der Arbeitsentgeltberechnung für die beschäftigten Leiharbeitnehmer die zwischen dem Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister (AMP) und der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit (CGZP) vereinbarten Tarifverträge an und führte auf Grundlage der hiernach ermittelten Arbeitsentgelte Gesamtsozialversicherungsbeiträge ab.
Im Monat Oktober 2011 führte die Beklagte eine Betriebsprüfung bei der Klägerin durch.
Bereits zuvor hatte die Beklagte am 07.10.2010 eine Betriebsprüfung für den Zeitraum vom 01.01.2006 bis zum 31.12.2009 durchgeführt, welche hinsichtlich des Streitgegenstandes zu keiner Beanstandung geführt hatte.
Nach Anhörung im Rahmen der Schlussbesprechung der Betriebsprüfung am 25.10.2011 forderte die Beklagte von der Klägerin mit Bescheid vom 21.11.2011 für den Zeitraum vom 01.12.2005 bis zum 31.12.2009 Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 110.262,75 Euro nach. Zur Begründung führte die Beklagte aus, der Gesetzgeber habe seit dem 01.01.2004 für den Bereich der Arbeitnehmerüberlassung den Grundsatz "equal pay" (gleicher Lohn für gleiche Arbeit) und das Gebot "equal treatment" (gleiche Arbeitsbedingungen) im Gesetz (§ 10 Abs. 4 AÜG) verankert. Das AÜG sehe jedoch einen Ausnahmefall für das gesetzliche Gleichbehandlungsgebot vor. Existiere ein Tarifvertrag, der die Entlohnung der Leiharbeitnehmer regle, könne gemäß § 9 Nr. 2 AÜG vom Gleichbehandlungsgrundsatz auch zum Nachteil des Leiharbeitnehmers abgewichen werden. Dies gelte nicht nur dann, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer tarifgebunden seien, sondern auch, wenn in Arbeitsverträgen die Geltung von Tarifverträgen vereinbart werde. Im Oktober 2008 sei von der Gewerkschaft Ver.di und dem Land Berlin ein Verfahren nach §§ 97 Abs. 1, 2a Abs. 1 Nr. 4 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) zur Feststellung der Tarifunfähigkeit der CGZP vor dem Arbeitsgericht Berlin eingeleitet worden. Mit Beschluss vom 01.04.2009 habe das Arbeitsgericht Berlin unter dem Aktenzeichen 35 BV 17008/08 die Tarifunfähigkeit der CGZP festgestellt. Dieser Beschluss sei auf die Beschwerde der dortigen Beklagten vom Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg am 07.12.2009 (Az. 23 TaBV 1016/09) bestätigt worden. Die zum Bundesarbeitsgericht (BAG) erhobene Rechtsbeschwerde sei am 14.12.2010 (Az. 1 ABR 19/10) als unbegründet zurückgewiesen worden. Zur Begründung sei im Wesentlichen ausgeführt worden, dass die Mitgliedsgewerkschaften der CGZP nach ihrem satzungsgemäßen Geltungsbereich nicht die Tariffähigkeit für die gesamte Zeitarbeitsbranche vermittelten. Die Bestätigung der Tarifunfähigkeit der CGZP durch das BAG habe die Unwirksamkeit der von ihr geschlossenen Tarifverträge zur Folge. Damit komme es zur Anwendung des § 10 Abs. 4 AÜG. Der Leiharbeitnehmer, der auf Basis eines CGZP-Tarifvertrages beschäftigt sei oder gewesen sei, könne von dem Verleiher den Lohn be...