Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweiliger Rechtsschutz. fehlender Anordnungsanspruch. Nichtvorliegen eines Sozialhilfeanspruchs. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. erwerbsfähiger Unionsbürger. Verfassungsmäßigkeit. kein Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Eheschließung. keine Folgenabwägung. Bindungswirkung der Rechtsprechung des BSG
Leitsatz (amtlich)
1. § 21 S 1 SGB 12 gilt auch für erwerbsfähige Unionsbürger, die nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen sind.
2. Die vom BSG vorgenommene Auslegung des § 23 SGB XII hat zur Folge, dass in den ersten drei Monaten ein gebundener Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlichem Umfang besteht, vom vierten bis zum sechsten Monat nur ein Anspruch auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung nach § 23 Abs 1 S 3 SGB 12, und nach Ablauf von insgesamt sechs Monaten eine Ermessensreduzierung auf Null im Hinblick auf eine Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlichem Umfang. Ein solches Ergebnis erscheint kaum nachvollziehbar.
3. Ein Aufenthaltsrecht aus § 7 Abs 1 S 3 des Aufenthaltsgesetzes oder § 25 Abs 4 S 1 AufenthG (juris: AufenthG 2004) aufgrund einer angekündigten Eheschließung setzt voraus, dass sich aus objektiven Umständen ergibt, dass die Eheschließung zeitnah bevorsteht, dh dass der Eheschließungstermin feststehen oder jedenfalls verbindlich bestimmbar sein muss.
4. Dass der Gesetzgeber mit dem Leistungsausschluss für EU-Ausländer, die ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ableiten, den Nachrang des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber dem des Herkunftslandes normiert, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
5. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10 ua = BVerfGE 132, 134 = SozR 4-3520 § 3 Nr 2. Die Situation eines Asylbewerbers ist nicht mit der eines EU-Bürgers vergleichbar. Während ein Asylbewerber, der sich auf eine politische Verfolgung in seinem Heimatland beruft, regelmäßig nicht in sein Herkunftsland zurückkehren kann, ist dies dem EU-Bürger, der von seinem Freizügigkeitsrecht zum Zweck der Arbeitsuche Gebrauch gemacht hat und in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist, grundsätzlich ohne Weiteres möglich.
6. Für eine Folgenabwägung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren besteht nur dann Raum, wenn dem erkennenden Spruchkörper eine Klärung der Sach- und Rechtslage in der in diesem Verfahren zur Verfügung stehenden Zeitspanne nicht möglich ist.
7. Höchstrichterliche Urteile sind kein Gesetzesrecht und erzeugen keine damit vergleichbare Rechtsbindung. Ihr Geltungsanspruch über den Einzelfall hinaus beruht allein auf der Überzeugungskraft ihrer Gründe sowie der Autorität und den Kompetenzen des Gerichts. Auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ist der Rechtsprechung der an diesem Verfahren nach dem Willen des Gesetzgebers gar nicht beteiligten Revisionsinstanz keine weitergehende Bindungswirkung einzuräumen, als ihr im Übrigen zukommt.
Tenor
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes um die Verpflichtung der Antragsgegnerin, der Antragstellerin Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XII) zu gewähren.
Die 1979 in Beirut/ Libanon geborene Antragstellerin ist libanesische und britische Staatsangehörige. Sie absolvierte nach eigenen Angaben eine "Highschool-Ausbildung", schloss in der Folge aber keine Berufsausbildung ab und war auch nicht mehr berufstätig. Auf der Grundlage einer Heiratserlaubnis des Schariarichters von Beirut vom 08.08.1998 war sie seit dem 13.08.1998 mit dem 1966 geborenen M verheiratet. Aus dieser Ehe gingen zwei in den Jahren 2002 und 2008 geborene Kinder hervor. Jedenfalls zuletzt lebten die Antragstellerin und Herr M in Großbritannien. Die gemeinsame Ehe wurde - gemäß von der Antragstellerin beigefügtem Schreiben - durch Scheidungserlaubnis des Schariarichters von Beirut am 11.04.2015 geschieden.
Die Antragstellerin reiste am 21.09.2015 aus Großbritannien in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie zog in der Folge zu ihrem neuen Lebensgefährten, dem am 01.01.1993 syrischen Staatsbürger Mohammad L, in die Wohnung Lstr. in E. Herr L stand zu diesem Zeitpunkt im Bezug von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) beim Jobcenter Dortmund. In einer Veränderungsmitteilung gaben Herr L und die Antragstellerin den Einzug beim Jobcenter Dortmund an. Mit an Herrn L adressiertem Bescheid "zur Aufhebung, Erstattung und Aufrechnung" vom 18.02.2016 führte die Antragsgegnerin aus, dass die Antragstellerin keinen Anspruch auf die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II habe, weil sie vom Leistungsausschluss des § 7 Abs.1 Satz 2 Nr.2 SGB II erfasst sei. Gleichwohl berücksichtigte das Jobcenter Dortmund zugunsten des Herrn ...