Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer während der ersten drei Monate des Aufenthalts. Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt. Leistungsausschluss für dem Grunde nach Leistungsberechtigte nach dem SGB 2. Leistungsausschluss wegen Einreise zum Zweck des Sozialhilfebezugs. keine Leistungsgewährung nach § 23 Abs 1 S 3 SGB 12. Verfassungsmäßigkeit. Zumutbarkeit einer Rückkehr ins Heimatland. Zulassung der Sprungrevision

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zum Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II für "Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts".

2. § 21 S 1 SGB XII steht der Gewährung von Leistungen nach § 23 Abs 1 S 3 SGB XII im Ermessenswege an erwerbsfähige Hilfebedürftige, die EU-Staatsangehörige sind, entgegen. § 21 S 1 SGB XII stellt grundsätzlich eine "Anwendungssperre" für erwerbsfähige Hilfebedürftige im Hinblick auf den Zugang zu Leistungen nach dem SGB XII dar; die vom BSG zu dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 4 SGB II entwickelten Grundsätze lassen sich nicht auf den Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II übertragen (Fortführung von SG Dortmund vom 18.4.2016 - S 32 AS 380/16 ER (zu § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II); entgegen BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R = BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr 43 und vom 20.1.2016 - B 14 AS 35/15 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 47 (ebenfalls zu § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II); Anschluss an SG Dortmund vom 11.2.2016 - S 35 AS 5396/15 ER, LSG Essen vom 7.3.2016 - L 12 SO 79/16 B ER, LSG Celle-Bremen vom 22.2.2016 - L 9 AS 1335/15 B ER = NdsRpfl 2016, 168 (alle ebenfalls zu § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II)).

3. Hielte man Leistungen nach dem SGB XII für erwerbsfähige EU-Bürger nicht schon wegen § 21 S 1 SGB XII für ausgeschlossen, besäßen diese Personen, wenn sie nicht unter § 23 Abs 3 S 1 Alt 1 SGB XII fallen, ausgerechnet in den ersten drei Monaten ihres Deutschlandaufenthalts einen gebundenen Anspruch nach §§ 23 Abs 1 S 1, 27 ff SGB XII, weil § 23 Abs 3 SGB XII für diesen Zeitraum, in dem das von § 2 Abs 2 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) abzugrenzende und voraussetzungslose, insbesondere keine Arbeitssuche voraussetzende Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs 5 FreizügG/EU besteht, keinen der Regelung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II entsprechenden Leistungsausschluss enthält. Die Auffassung des BSG hätte daher zur Folge, dass in den ersten drei Monaten ein gebundener Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlichem Umfang bestünde, in den Monaten 4-6 nur ein Anspruch auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung nach § 23 Abs 1 S 3 SGB XII und ab dem 7. Monat dann wieder eine Quasi-Anspruch aufgrund Ermessensreduzierung auf Null. Ein solches Ergebnis - eine sozialleistungsrechtliche "Achterbahnfahrt" - erscheint kaum nachvollziehbar (Fortführung von SG Dortmund vom 18.4.2016 - S 32 AS 380/16 ER).

4. Der Leistungsausschluss nach § 23 Abs 3 S 1 Alt 1 SGB XII (Einreise, um Sozialhilfe zu erlangen) greift ein, wenn das Motiv, Sozialhilfe zu erlangen, für den Ausländer neben anderen Einreisegründen so wichtig war, dass er ansonsten nicht eingereist wäre (Anschluss an LSG Stuttgart vom 22.6.2016 - L 2 SO 2095/16 ER-B = ASR 2016, 161).

Es reicht aus, wenn ein finaler Zusammenhang zwischen der Einreise und einem anfänglichen, möglicherweise aber nur zeitweiligen und nicht dauerhaften Sozialhilfebezug vorliegt. Das muss zumindest dann gelten, wenn - wie hier - beim Fassen des Einreiseentschlusses nicht konkret absehbar ist, dass dieser Anfangszeitraum, für den Sozialleistungen benötigt werden, zeitnah enden wird, weil eine anderweitige Einkommens- oder Finanzquelle zur Sicherung des Lebensunterhalts zur Verfügung stehen wird.

5. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II für die ersten drei Monate des Aufenthalts verletzt - auch unter Berücksichtigung der aufgrund von § 21 Satz 1 SGB XII und hier auch § 23 Abs 3 S 1 Alt 1 SGB XII fehlenden Anspruchsberechtigung in Bezug auf Leistungen nach dem SGB XII - nicht das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG (Fortführung von SG Dortmund vom 18.4.2016 - S 32 AS 380/16 ER (zu § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II); Anschluss an SG Dortmund vom 11.2.2016 - S 35 AS 5396/15 ER, LSG Essen vom 7.3.2016 - L 12 SO 79/16 B ER, LSG Celle-Bremen vom 22.2.2016 - L 9 AS 1335/15 B ER aaO, SG Berlin vom 22.2.2016 - S 95 SO 3345/15 ER, LSG Hamburg vom 15.10.2015 - L 4 AS 403/15 B ER und LSG München vom 1.10.2015 - L 7 AS 627/15 B ER (alle ebenfalls zu § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II)).

Für Unionsbürger ist mit dem FreizügG/EU und der ihm zugrunde liegenden Unionsbürgerrichtlinie (juris: EGRL 38/2004) ein System einer "privatisierten" Unionsbürgerfreizügigkeit geschaffen worden, das sich durch das Fehlen einer k...

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