Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes. Vertrauensschutz

 

Orientierungssatz

1. Bei der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 45 Abs. 2 S. 1 SGB 10 ist eine Berufung auf Vertrauensschutz ausgeschlossen, wenn die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht bekannt war.

2. Als Adressat eines begünstigenden Bescheides ist der Begünstigte rechtlich gehalten, den Bescheid zu lesen. Auch der rechtlich unkundige Adressat ist verpflichtet, die Behörde auf eine Fehlerhaftigkeit der Bewilligung aufmerksam zu machen, soweit diese augenfällig ist.

3. Der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit verlangt in diesen Fällen, dass sich die rechtlichen oder tatsächlichen Fehler aus dem Bescheid selbst oder dessen Begleitumständen ergeben und für den Adressaten unter Berücksichtigung dessen individueller Einsichtsfähigkeit augenfällig sind.

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Erstattungsbescheides, mit dem ein Betrag in Höhe von insgesamt 2.006,09 Euro von den Klägern zurückgefordert wurden.

Die im Jahr 2006 und 2010 geborenen Kläger stehen im Leistungsbezug bei dem Beklagten. Mit Weiterbewilligungsantrag vom 30.11.2015 beantragte der Vater der Kläger als Vertreter der Bedarfsgemeinschaft Leistungen ab Januar 2016. Hierbei gab er unter Punkt 3.1 des Antrages das Kindergeld für die Kläger in Höhe von insgesamt 568,00 Eu-ro als Einkommen an.

Das Kindergeld wurde durch den Beklagten jedoch versehentlich nicht als Einkommen berücksichtigt. Mit Bescheid vom 28.12.2015 wurden der Bedarfsgemeinschaft daher für den Zeitraum Januar 2016 bis Juni 2016 insgesamt Leistungen in Höhe von 1.875 Euro monatlich bewilligt.

Mit Änderungsbescheid vom 14.01.2016 wurden für den Monat Februar 2016 nach Be-rücksichtigung des Zuflusses eines Heiz-und Betriebskostenguthabens nur noch 1.648,12 Euro bewilligt. Auch hier fand eine Berücksichtigung des angegebenen Kin-dergeldes als Einkommen der Kläger nicht statt.

Nachdem die versehentliche Nichtberücksichtigung aufgefallen war, wurden die Kläger mit Schreiben vom 12.10.2016 zu einer möglichen Überzahlung angehört. Mit Schreiben vom 17.10.2016 erklärte der Vater der Kläger, er habe auf die Berechnung keinen Einfluss nehmen können, da diese durch den Beklagten ausgeführt worden sei. Mit Schreiben vom 13.10.2016 bat der Klägervertreter den Beklagten um Neuberechnung der Leistungen für den Monat August, da nach seinen eigenen Berechnungen die Bewilligung zu niedrig erfolgt sei.

Mit Bescheid vom 20.10.2016 erklärte der Beklagte die Rücknahme, Erstattung und Zah-lungsaufforderung gegenüber dem Vater der Kläger als deren gesetzlicher Vertreter. Für den Kläger zu 1) wurde eine Überzahlung in Höhe von insgesamt 1.003,05 Euro und für den Kläger zu 2) eine Überzahlung i.H.v. 1.003,04 Euro festgestellt. Nach Ziffer 1. des Bescheides wurden die Bewilligungsbescheide in genannter Höhe für die Kläger zurückgenommen. Nach Ziffer 2. und 3. erfolgten sodann die Erstattung und die Einzie-hung der genannten Beträge.

Mit Schreiben vom 24.10.2016 erhoben die Kläger, vertreten durch ihren gesetzlichen Vertreter, gegen den Bescheid vom 20.10.2016 Widerspruch. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Überzahlung sei für den Vertreter der Kläger nicht erkennbar gewesen. Die Weiterbewilligung ab Januar 2016 sei nicht wesentlich höher ausgefallen als in den Monaten davor.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19.01.2018 wies der Beklagte die Einwände der Kläger als unbegründet zurück. Auf einem Vertrauensschutz könnten sich die Kläger nicht berufen, da die grobe Fahrlässigkeit ihres gesetzlichen Vertreters ihnen zuzurechnen sei. Dieser hätte erkennen müssen, dass das Kindergeld nicht wie bisher angerechnet wurde, da der Abschnitt über die Einkommensanrechnung gänzlich fehlte. Hiergegen erhoben die Kläger am 19.02.2018 Klage. Im Rahmen der Klagebegründung wurde der bisherige Vortrag vertieft. Die Kläger sind der Ansicht, dass dem Vertreter die Rechtswidrigkeit der Bescheide nicht auffallen musste und sein Vertrauen schutzwürdig sei. Der Leistungsbescheid vom 28.12.2015 sei aufgrund der Anrechnung fiktiven Einkommens unübersichtlich und nicht nachvollziehbar gewesen.

Die Kläger beantragen,

der Bescheid vom 20.10.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.01.2018 wird aufgehoben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage wird abgewiesen.

Der Beklagte verweist auf seine bisherigen Ausführungen im Rahmen des Wider-spruchsbescheids.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung wurde Beweis erhoben durch Vernehmung des Vaters der Kläger als deren gesetzlichen Vertreter. Auf die Vernehmung der Mutter der Kläger wurde übereinstimmend verzichtet. Wegen der Einzelheiten der Vernehmung wird auf die Sitzungsniederschrift vom 22.01.2020 Bezug genommen. Wegen der weite-ren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den I...

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