Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. anderes Aufenthaltsrecht. Daueraufenthaltsrecht. gewöhnlicher Aufenthalt. Unschädlichkeit der Unterbrechungen der Meldungen bei Meldebehörde nach erfolgter Erstanmeldung. Vorlage geeigneter Nachweise für einen fünfjährigen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland. Rechtmäßigkeit des Aufenthalts. Ausreisepflicht erst nach Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts durch Ausländerbehörde

 

Orientierungssatz

1. Ein gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne des § 7 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB 2 iVm § 30 Abs 3 S 2 SGB 1 erfordert nach der verpflichtenden Erstanmeldung bei der Meldebehörde keinen unterbrechungslosen Aufenthalt des ausländischen Staatsangehörigen im Inland. Voraussetzung ist nicht die Lückenlosigkeit des Aufenthalts, sondern nur eine gewisse Stetigkeit und Regelmäßigkeit. Dauerhaft ist ein solcher Aufenthalt, wenn und solange er nicht auf Beendigung angelegt, also zukunftsoffen ist.

2. Eine durchgehende Meldung nach der Erstanmeldung ist keine Voraussetzung für die Entstehung eines Daueraufenthaltsrechts im Sinne des § 7 Abs 1 S 4, S 5 SGB 2. In Zeiten der Obdach- bzw Wohnungslosigkeit besteht weder die Pflicht noch die Möglichkeit zu einer Meldung einer Wohnsitznahme.

3. Ausländische Staatsangehörige, die sich auf die Rückausnahme im Sinne von § 7 Abs 1 S 4 bis 6 SGB 2 vom Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 berufen und einen mindestens fünfjährigen Aufenthalt im Inland behaupten, können auf Verlangen des Leistungsträgers geeignete Nachweise für die Aufenthaltsdauer als Beweismittel vorlegen.

4. Erst eine verfügte Verlustfeststellung des Rechts auf Einreise und Aufenthalt (§ 7 Abs 1 S 1 FreizügG/EU 2004), durch die eine vollziehbare Ausreisepflicht begründet wird, unterbricht den gewöhnlichen Aufenthalt nach § 7 Abs 1 S 6 SGB 2. Aufgrund der in § 11 FreizügG/EU 2004 normierten generellen Freizügigkeitsvermutung muss der Aufenthalt eines Unionsbürgers zumindest solange als rechtmäßig angesehen werden, bis die zuständige Ausländerbehörde das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts aufgrund von § 5 Abs 4 FreizügG/EU 2004 bzw § 2 Abs 7 FreizügG/EU 2004 festgestellt und die sofortige Ausreisepflicht begründet hat.

5. Solange eine Ausreisepflicht des Unionsbürgers nicht entsprechend durch die Ausländerbehörde festgestellt bzw begründet wurde, führen auch Zeiten einer Inhaftierung im Inland nicht zu einer schädlichen Unterbrechung des gewöhnlichen Aufenthalts des Unionsbürgers im Sinne des § 7 Abs 1 S 4, S 5 SGB 2.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 20.09.2023; Aktenzeichen B 4 AS 8/22 R)

 

Tenor

Der Bescheid des Beklagten vom 13.02.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.06.2018 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger vom 01.01.2018 bis zum 31.12.2018 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalt nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch in Höhe von 416,00 EUR monatlich sowie für die Zeit vom 01.01.2019 bis zum 28.02.2019 in Höhe von 424,00 EUR monatlich zu gewähren.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Die Revision zum Bundessozialgericht wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 01.01.2018 bis zum 28.02.2019.

Der 1976 geborene Kläger ist polnischer Staatsangehöriger. Er reiste erstmals 2009 aus Polen in die Bundesrepublik Deutschland. Die erste Meldung in der Bundesrepublik erfolgte am 21.04.2009 unter der Adresse "F in 58089 X". Zudem war der Kläger in folgenden Zeiten in Deutschland gemeldet:

- 01.03.2013 bis 15.06.2014: A in X

- 15.06.2014 bis 01.02.2015: B in X

- 07.05.2015 bis 01.12.2015: C in X

- 01.12.2015 bis 19.08.2016: D in X

- 28.09.2016 bis 01.09.2017: E in X

Im Zeitraum 01.03.2013 bis zum 30.06.2015 arbeitete der Kläger zudem als Bauhelfer für die Firma "AA" sowie vom 01.07.2015 bis zum 31.05.2016 als Putzhelfer bei der Firma "AB". In der Zeit vom 01.01.2016 bis zum 31.03.2016 bezog der Kläger Arbeitslosengeld I. Am 08.08.2016 unterzog er sich einer zahnärztlichen Untersuchung. Vom 30.10.2016 bis zum 01.11.2016 verbüßte er zudem eine Freiheitsstrafe wegen einer nicht bezahlten Geldstrafe in der Justizvollzugsanstalt (JVA) X. In der Zeit vom 28.11.2016 bis zum 01.03.2017 arbeitete der Kläger für die Firma "AC". Vom 14.07.2017 bis zum 05.01.2018 stand er sodann erneut im Bezug von Arbeitslosengeld I. Seit dem 02.09.2017 ist der Kläger wohnungslos und nicht mehr gemeldet. Seit dem 28.10.2017 hat der Kläger eine postalische Erreichbarkeitsanschrift über die Wohnungslosenhilfe Beratungsstelle in X.

Am 17.01.2018 stellte der Kläger einen Antrag auf Leistungen. Mit Bescheid vom 13.02.2018 lehnte der Beklagte die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II ab. Zur Begründung führte er aus, dass der Kläger allein ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitssuche habe. Seit Aufgabe seiner Beschäftigung b...

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