Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsarzt. Wirtschaftlichkeitsprüfung. Verordnungsregress wegen Überschreitung des Richtgrößenvolumens. Gliederung nach Altersgruppen und Krankheitsarten. Verbindlichkeit der Vorgaben des § 84 Abs 6 S 2 SGB 5. veränderte Rechtslage ab 2004
Orientierungssatz
1. Die Gliederung der Richtgrößen nach dem Versichertenstatus der Patienten in Mitglieder und Familienversicherte einerseits sowie Rentner andererseits (hier in der sächsischen Arzneimittel- und Richtgrößenvereinbarung für das Kalenderjahr 2006) stellt keine altersgemäße Gliederung im Sinne des § 84 Abs 6 SGB 5 dar.
2. Die Vorgabe, die Richtgrößen nach altersgemäß gegliederten Patientengruppen zu gliedern, ist für die Vertragspartner der Arzneimittel- und Richtgrößenvereinbarung verbindlich.
3. Ausschließlich nicht behebbare Probleme rechtfertigen ein Absehen von der gesetzlich vorgesehenen Gliederung nach Altersgruppen und Krankheitsarten. Das Gesetz entfaltet für den Regelfall eine strikte Bindung, und Abweichungen hiervon sind nur in atypischen Fällen gestattet (vgl LSG Celle-Bremen vom 6.5.2011 - L 3 KA 9/11 B ER).
4. Zur Frage der Veränderung der Rechtslage durch die Änderung von § 296 SGB 5 durch das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) vom 14.11.2003 (BGBl I 2003, 2190) mit Wirkung vom 1.1.2004 (Aufgabe von SG Dresden vom 16.12.2010 - S 18 KA 1507/07).
5. Der Verzicht auf eine altersgemäße Gliederung der Arzneimittel-Richtgrößen für das Jahr 2006 ist nicht deshalb gerechtfertigt, weil die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenkassen in Ermangelung einer eindeutigen und zwingenden Vorgabe in § 296 SGB 5 keine nach Altersklassen gegliederten Daten über Verordnungen und Kosten von Arzneimitteln geliefert haben (Entgegen LSG Celle-Bremen vom 6.5.2011 - L 3 KA 9/11 B ER).
Tenor
I. Der Widerspruchsbescheid vom 22.02.2010 wird aufgehoben.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
III. Der Streitwert wird auf 32.477,03 EUR festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Festsetzung eines Regresses im Ergebnis einer Prüfung der Wirtschaftlichkeit von Arzneimittelverordnungen des Jahres 2006 auf der Grundlage von Richtgrößen.
Der Kläger nimmt als Facharzt für Allgemeinmedizin mit Praxissitz in B. an der vertragsärztlichen Versorgung teil.
Mit Schreiben vom 21.05.2008 zeigte die Geschäftsstelle der Prüfgremien der Ärzte und Krankenkassen Sachsen an, eine Arzneimittel-Richtgrößenprüfung für das Jahr 2006 durchzuführen. Mit seiner am 02.07.2008 eingegangenen Stellungnahme vom 28.06.2008 machte der Kläger insbesondere Leistungen der Suchtmedizin, die Hepatitis-C-Therapie, die geriatrische Betreuung und die Behandlung orthopädischer Erkrankungen als Praxisbesonderheiten geltend.
Die Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen Sachsen setzte auf Grund ihres Beschlusses vom 03.12.2008 mit Bescheid vom 19.12.2008 gegen den Kläger einen Regress in Höhe von 84.993,62 EUR fest.
Seinen am 19.01.2009 hiergegen erhobenen Widerspruch vom 16.01.2009 begründete der Kläger mit Schreiben vom 19.04. und 15.09.2009 unter Hinweis auf zahlreiche Umstände, die seiner Auffassung nach die Patientenstruktur und das Leistungsangebot seiner Praxis von anderen hausärztlichen Praxen unterscheiden und zu einem Mehraufwand an Arzneimitteln führen würden. Gestützt auf die Morbiditätsstatistiken der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein und der M. GmbH machte der Kläger unter anderem geltend, bei der Verordnung nach Altersklassen sei insbesondere in der Gruppe der 50 bis 59-Jährigen eine signifikante Abweichung (Patientenanteil in der Praxis 29 % gegenüber 19 % in der Vergleichsgruppe) zu beobachten. Auch in dieser Altersgruppe seien Erkrankungen mit hohem Verordnungsaufwand weit verbreitet, dies gelte namentlich für die Hypertonie bei einem Anteil von Hypertonikern in dieser Altersgruppe von 29 % in der Praxis bzw. 27 % in der Vergleichsgruppe. Gleichwohl komme auch in dieser, bei ihm besonders häufig vertretenen Altersgruppe nur die Richtgröße für Mitglieder und Familienversicherte (36,20 EUR) zur Anwendung, nicht die deutlich höhere für Rentner (121,52 EUR). Bei den Patienten dieser Altersgruppe, die noch arbeitsfähig seien und eine hohe Restlebenserwartung aufwiesen, entscheide er sich gezielt für den Einsatz kostenintensiverer, jedoch nebenwirkungsärmerer Antihypertensiva. Auch andere Erkrankungen mit hohem Verordnungsaufwand seien in dieser Altersgruppe weiter verbreitet als bei jüngeren Patienten, die zudem wegen eingeschränkter Sprechzeiten der Praxis wegen der Betreuung von Heim- und Hausbesuchspatienten und daraus resultierender langer Wartezeiten bei banalen Erkrankungen eher andere Ärzte aufsuchten, so dass ihm diese "Verdünnerscheine" entgingen.
Der Beklagte änderte auf Grund des Beschlusses vom 02.12.2009 mit Widerspruchsbescheid vom 22.02.2010, der am selben Tage zur Post aufgegeben wurde, die Entscheidung der Prüfungsstelle ab und setzte den Regress in Höhe von 32.477,03 ...