Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Antrag auf vorläufige Einstellung der Vollstreckung von Beitragsforderungen. Unzulässigkeit bei bestandskräftig gewordenem Bescheid. Ausnahme. offensichtlich rechtswidriger Bescheid. Vollstreckung von Säumniszuschlägen. Vollstreckungsanordnung. Voraussetzung: Festsetzung der Nebenforderungen

 

Orientierungssatz

1. Der Umstand, dass der Verwaltungsakt, um dessen Vollziehung es geht, bestandskräftig geworden ist, macht einen Antrag nach § 86b Abs 1 S 1 Nr 2 SGG unzulässig (vgl LSG Halle vom 6.7.2011 - L 5 AS 226/11 B ER).

2. In Ausnahmefällen kann auch gegen bestandskräftige Verwaltungsakte einstweiliger Rechtsschutz nach § 86b Abs 2 SGG mit dem Ziel in Anspruch genommen werden, die Vollstreckung vorläufig einzustellen, wenn aus Gründen des materiellen Rechts offensichtlich rechtswidrige Bescheide beseitigt werden sollen (so ua LSG Berlin-Potsdam vom 22.3.1996 - L 9 Kr SE 23/96; LSG Celle-Bremen vom 28.1.2008 - L 11 AL 165/07 ER). Ein solcher Anspruch kann allerdings nur dann vorliegen, wenn sich die Beitragsbescheide als ganz offensichtlich rechtswidrig erweisen, um der Bestandskraft des schon nach § 86a Abs 2 Nr 1 SGG kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Beitragsbescheides nicht jede Bedeutung zu nehmen (vgl LSG Erfurt vom 10.6.2015 - L 6 KR 430/15 B ER und LSG Berlin-Potsdam vom 13.11.2013 - L 9 KR 254/13 B ER).

3. Säumniszuschläge entstehen unmittelbar durch Gesetz und ein entsprechender Verwaltungsakt ist lediglich deklaratorischer Natur. Im Falle einer Vollstreckungseinleitung ist indes eine Festsetzung der Nebenforderungen, mit der der Schuldner (Antragsteller) über die Zusammensetzung und Höhe der Forderung informiert wird, notwendig. Nicht ausreichend ist das Vorliegen lediglich eines Bescheides zur Hauptforderung (hier: der bestandskräftigen Beitragsbescheide).

 

Tenor

Die Antragsgegnerin zu 1. wird verpflichtet, die Zwangsvollstreckung von Säumniszuschlägen und sonstigen Kosten gegenüber dem Antragsteller, basierend auf den Beitragsbescheiden vom 27.1.2010 und 15.4.2010, vorläufig einzustellen.

Im Übrigen wird der Eilantrag abgelehnt.

Die Antragsgegnerin zu 1. hat dem Antragsteller die zur Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Kosten zur Hälfte (50%) zu erstatten.

Der Antrag auf Bewilligung einer Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Einstellung der Vollstreckung von Beitragsforderungen der Antragsgegnerin zu 1. - nebst Säumniszuschlägen und Mahnkosten.

Der Antragsteller - derzeit in A-Stadt wohnhaft - erhielt mit Datum 28.11.2018 acht Vollstreckungsankündigungen des Antragsgegners zu 2. zu Beitragsforderungen der Antragsgegnerin zu 1. (betr. Kranken- und Pflegeversicherung) aus dem Jahr 2010 zuzüglich Säumniszuschläge und sonstiger Kosten bis Dezember 2018:

- 5.1. bis 31.1.2010

Beitrag 119,45 € zzgl. 139,04 € - insges. 258,49 €

- 1.3. bis 31.3.2010

Beitrag 274,03 € zzgl. 273,44 € - insges. 547,47 €

- 1.4. bis 30.4.2010

Beitrag 316,18 € zzgl. 331,34 € - insges. 647,52 €

- 1.5. bis 31.5.2010

Beitrag 316,18 € zzgl. 330,01 € - insges. 646,19 €

- 1.6. bis 30.6.2010

Beitrag 316,18 € zzgl. 325,41 € - insges. 641,59 €

- 1.7. bis 31.7.2010

Beitrag 316,18 € zzgl. 320,81 € - insges. 636,99 €

- 1.8. bis 31.8.2010

Beitrag 316,18 € zzgl. 316,21 € - insges. 632,39 €

- 1.9. bis 17.9.2010

Beitrag 179,17 € zzgl. 153,74 € - insges. 332,91 €

Nach Aktenlage liegt den Beitragsforderungen folgender Sachverhalt zu Grunde:

Im Zeitraum 15.1. bis 17.9.2010 war der Antragsteller als hauptberuflich Selbständiger versicherungspflichtiges Mitglied bei der Antragsgegnerin zu 1.

Mit Bescheid vom 27.1.2010 setzte die Antragsgegnerin zu 1. - zugleich im Namen der Pflegeversicherung - ab 15.1.2010 Beiträge von monatlich insgesamt 210,79 € (182,68 € Krankenversicherung - 28,11 € Pflegeversicherung) fest; für den Zeitraum ab 1.3. bis 15.3. in bisheriger Höhe und vom 16.3. bis 17.9.2010 in Höhe von insgesamt 316,18 € (274,02 € Krankenversicherung - 42,16 € Pflegeversicherung/ Bescheid vom 15.4.2010).

Der Antragsteller zahlte die Beiträge nicht. Die Antragsgegnerin zu 1. mahnte die ausstehenden Beitragszahlungen an.

Gegen beide Beitragsbescheide legte der Antragsteller Widerspruch ein. Die Antragsgegnerin zu 1. wies die Widersprüche mit Bescheid vom 17.8.2010 als unbegründet zurück. Die dazu vor dem Sozialgericht Karlsruhe erhobene Klage wurde durch Gerichtsbescheid vom 14.10.2010 abgewiesen (S 3 KR 3479/10); die eingelegte Berufung durch das LSG Baden-Württemberg mit Urteil vom 26.1.2011 zurückgewiesen (L 5 KR 4891/10).

Im Februar 2011 beantragte der Antragsteller die Überprüfung des Beitragsbescheides vom 15.4.2010 nach § 44 SGB X. Diesen Antrag lehnte die Antragsgegnerin zu 1. mit Bescheid vom 23.3.2011 und Widerspruchsbescheid vom 5.7.2011 bestandskräftig ab. Der Widerspruchsbescheid wurde laut Postzustellungsurkunde am 13.9.2011 durch Einlegen in den zur Wohnung des ...

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