Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung mit Medizinal-Cannabis. begründete vertragsärztliche Einschätzung zur Nichtanwendbarkeit einer allgemein anerkannten Behandlungsmethode im Einzelfall
Orientierungssatz
Ein Anspruch auf Versorgung mit Medizinal-Cannabis gemäß § 31 Abs 6 S 1 Nr 1 Buchst b SGB 5 besteht nicht nur dann, wenn eine allgemein anerkannte Behandlungsmethode nicht vorhanden ist, sondern bereits dann, wenn bei abstrakter Betrachtung zwar eine Standardbehandlung existiert, diese aber nach begründeter vertragsärztlicher Einschätzung bei Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen sowie unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann.
Tenor
1. Der Bescheid der Beklagten vom 17. Januar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Mai 2018 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die Versorgung mit Medizinal-Cannabis zu genehmigen.
2. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf die Genehmigung der Beklagten zur ärztlichen Verordnung von Medizinal-Cannabis.
Der 1968 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Am 2. Januar 2018 beantragte er unter Vorlage eines Arztfragebogens der Psychiatrischen Institutsambulanz der Psychiatrischen Poliklinik I der Medizinischen Hochschule Hannover vom 19. Dezember 2017 die Genehmigung nach § 31 Abs. 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) für die Versorgung mit den Cannabisextrakten Tilray THC25 und Tilray THC10:CBD10. Darin führte die Fachärztin für Neurologie Dr. C. aus, bei dem Kläger bestünden an behandlungsbedürftigen Erkrankungen ein chronisches Schmerzsyndrom der linken Schulter nach Clavicula-Fraktur und eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung [ICD-10-GM F90.0]. Daneben bestünden ein Aneurysma der Arteria cerebri anterior Coiling 2013, eine gegenwärtig mittelgradige rezidivierende depressive Störung, Tinnitus und eine Schlafstörung bei nächtlichen Schmerzen. Die ADHS mit Persistenz in das Erwachsenenalter sei eine schwerwiegende chronische Erkrankung, die alle Lebensbereiche umfasse und ein hohes Risiko für begleitende beziehungsweise Folgeerkrankungen berge. Der Kläger könne ohne Medikation seinen Alltag nur schwer bewältigen. Er habe sich bereits mit einer schweren depressiven Episode in stationärer Behandlung befunden. Zugleich bestehe aufgrund der mehrfach operierten Clavicula-Fraktur eine chronische Schmerzsymptomatik, die ebenfalls eine psychische Instabilität bewirke, sodass diese ebenfalls durch die Einnahme von CBD positiv beeinflusst werde. Ziel der Behandlung mit Cannabisextrakten seien die Besserung des Schulterschmerzes, Verbesserung der Aufmerksamkeit, Konzentration und Organisation, psychische Stabilisierung, Stimmungsaufhellung, Reduktion von Unfällen durch verbesserte Aufmerksamkeit, Verbesserung der Lebensqualität und Erhaltung der Berufstätigkeit. Aktuell erfolge eine Behandlung mit Ergotherapie (Neurofeedback), Physiotherapie und eine Cannabisbasierte Selbstmedikation. Bisherige medikamentöse Therapien hätten aufgrund von Nebenwirkungen nicht fortgesetzt werden können. Eine Therapie der Schulterschmerzen mit Tilidin, Gabapentin und Pregabalin sei wegen unerwünschter Nebenwirkungen (Sedierung, Benommenheit) abgebrochen worden. Die antidepressive Medikation mit Paroxetin und Elontril sei ebenfalls aufgrund von Nebenwirkungen abgesetzt worden, ohne dass der Antragsteller profitiert habe. 2013 sei zur Behandlung der ADHS-Symptomatik Medikinet adult mit einer Tagesdosis von 30 mg eingesetzt worden, worauf der Antragsteller mit Stimmungsschwankungen und einer Wesensänderung reagiert habe. Unter der Einnahme von Venlafixin sei eine gastrointestinale Blutung aufgetreten. Allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlungsoptionen stünden nicht zur Verfügung. Die zugelassenen Präparate der ADHS im Erwachsenenalter (Medikinet adult, Ritalin adult, Atomoxetin) dürften nicht eingesetzt werden, da aufgrund des cerebralen Aneurysmas eine Kontraindikation vorliege.
Die Beklagte holte ein sozialmedizinisches Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) in Hessen vom 12. Januar 2018 ein. Darin wird ausgeführt, die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme seien nicht nachvollziehbar erfüllt. Es könne nicht sicher beurteilt werden, ob eine schwerwiegende Erkrankung vorliege, da ärztlicherseits auf keine anerkannte Klassifikation zur Beurteilung Bezug genommen werde. Anhand der vorliegenden Unterlagen sei nicht nachvollziehbar, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung - beginnend mit einer differenzierten Indikationsstellung - nicht zur Verfügung stehe oder im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitsz...