Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage. Interessenabwägung. Asylbewerberleistung. Analogleistung. Leistungen in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 bei Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft oder einer Aufnahmeeinrichtung. Anwendbarkeit des § 15 AsylbLG. Verfassungsmäßigkeit
Orientierungssatz
1. Zwar bezweckte der Gesetzgeber mit § 15 AsylbLG lediglich die Schaffung einer Übergangsvorschrift für das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht (juris: AusrPflDG 2). Mit dem Wortlaut der Vorschrift, dem bei der Auslegung von Rechtsnormen besondere Bedeutung und die Funktion einer äußersten Grenze zukommt, lässt sich der vom Gesetzgeber beabsichtigte enge Anwendungsbereich jedoch kaum vereinbaren.
2. Gegen § 2 Abs 1 S 4 Nr 1 AsylbLG bestehen zumindest gewisse verfassungsrechtliche Bedenken (vgl SG Landshut vom 24.10.2019 - S 11 AY 64/19 ER = SAR 2020, 20).
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs sowie einer allfälligen Anfechtungsklage des Antragstellers gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 17.9.2019 wird angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu erstatten.
3. Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe für die 1. Instanz ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt W. beigeordnet.
Gründe
Der 1989 geborene Antragsteller begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen einen Bescheid der Antragsgegnerin vom 17.9.2019. Mit diesem Bescheid hatte die Antragsgegnerin aufgrund des zum 1.9.2019 in Kraft getretenen § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) die mit Bescheid vom 5.3.2019 erfolgte Bewilligung von Leistungen nach § 2 AsylbLG u.a. in Höhe des Regelsatzes nach Regelbedarfsstufe 1 (424 € monatlich) an den Antragsteller mit Wirkung vom 1.10.2019 bis auf weiteres aufgehoben und stattdessen u.a. Leistungen nach Regelbedarfsstufe 2 (382 € monatlich) bewilligt. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Verfahrens sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die von der Antragsgegnerin vorgelegte Verwaltungsakte sowie die Verfahrensakte des Gerichts verwiesen.
Gemäß § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Diese Form des einstweiligen Rechtsschutzes ist hier einschlägig, denn der Antragsteller wendet sich gegen einen auf § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG und § 9 Abs. 4 Nr. 1 AsylbLG i.V.m. § 48 Abs. 1 S. 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) gestützten Verwaltungsakt der Antragsgegnerin, durch den die zuvor mittels bindendem Verwaltungsakt unbefristet erfolgte Bewilligung höherer Asylbewerberleistungen aufgehoben und durch die Bewilligung niedrigerer Leistungen ersetzt wurde. Der hiergegen erhobene Widerspruch des Antragstellers entfaltet ebenso wie eine allfällige Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung, vgl. § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 11 Abs. 4 Nr. 1 AsylbLG.
§ 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG gibt selbst keinen Maßstab vor, wann die aufschiebende Wirkung anzuordnen ist. Diese Lücke ist durch eine analoge Anwendung von § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG zu schließen. Das Gericht nimmt danach eine eigenständige Abwägung der Beteiligteninteressen (öffentliches Interesse am sofortigen Vollzug und privates Aufschubinteresse) vor. Dabei sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Denn im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sollen keine Positionen eingeräumt werden, die im Hauptsacheverfahren erkennbar nicht standhalten. Bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit der Bescheide ist die aufschiebende Wirkung anzuordnen, bei offensichtlicher Aussichtslosigkeit des Rechtsbehelfs die Anordnung hingegen abzulehnen. In den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGG, in denen wie hier der Rechtsbehelf von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung hat, ist weiter die Entscheidung des Gesetzgebers zu beachten, den öffentlichen Interessen grundsätzlich den Vorrang einzuräumen (LSG Baden-Württemberg, Beschl. v. 16.4.2008, Az. L 7 AS 1398/08 ER-B, (juris), m.w.N.). Erscheinen die Erfolgsaussichten aufgrund der im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens grundsätzlich gebotenen summarischen Prüfung offen, ist eine allgemeine Interessenabwägung vorzunehmen, bei der der Grad der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren zu berücksichtigen ist. Es gilt der Grundsatz: Je größer die Erfolgsaussichten sind, umso geringer sind die Anforderungen an das Aussetzungsinteresse des Antragstellers; umgekehrt sind die Anforderungen an die Erfolgsaussichten umso geringer, je schwerer die Verwaltungsmaßnahme wirkt. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die Eilentscheidung nicht erginge, die Klage aber später Erfolg hätte, und die Nachteile, d...