Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Krankenversicherung: Voraussetzungen einer Kostenübernahme für eine adipositaschirurgische Maßnahme zur Gewichtsreduktion
Orientierungssatz
1. Jedenfalls bei einem Body-Mass-Index von mehr als 30 kg/m2 kommt einem Übergewicht ein Krankheitswert zu, der eine ärztliche Behandlung indiziert.
2. Soweit Möglichkeiten einer Ernährungs- und Bewegungstherapie zur Beseitigung einer Adipositas erschöpft sind, ist jedenfalls bei einem Body-Mass-Index von mehr als 40 kg/m2 ein chirurgischer Eingriff zur Gewichtsreduktion ohne weiteres indiziert.
3. Einzelfall zur Beurteilung der Erfolglosigkeit konservativer Maßnahmen zur Gewichtsreduzierung bei einer Adipositas (hier: bejaht).
Tenor
1. Der Bescheid vom 25.06.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheiden vom 06.10.2010 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die Kosten von 7.172,18 € anlässlich der adipositas-chirurgischen Maßnahme am 13.10.2010 nebst Zinsen i.H.v. 6,31 % hieraus ab Operationsdatum zu erstatten.
3. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand
Die Beteiligen streiten um die Erstattung von Kosten in Höhe von 7.172,18€ für die Anlage eines laparoskopischen Magenbypass im Oktober 2010 nebst Zinsen. Die am 08.04.1972 gebotene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Am 12.03.2010 beantragte sie über das Klinikum Fulda - Klink für Allgemein- und Viszeralchirurgie - die Bewilligung für eine adipositaschirurgische Maßnahme zur Gewichtsreduktion. Der Leitende Oberarzt Dr. R. führte in seiner befürwortenden Stellungnahme an, dass das Gewicht aktuell 110 kg betrage, was einem BMI von 44 kg/m2 entsprechen würde. Die morbide Adipositas habe sich mit dem Jugendalter allmählich entwickelt. Endokrine Ursachen für die Übergewichtigkeit bestünden nicht. Auf den weiteren Inhalt des Schreibens wird Bezug genommen.
In der Folgezeit legte die Klägerin der Beklagten ein von ihr im April 2010 geführtes Ernährungsprotokoll sowie verschiedene ärztliche Unterlagen vor Die Klägerin gab an, keinen Psychologen für Adipositas gefunden zu haben. Nachfragen bei der Beklagten, der Landesärztekammer und der Psychotherapeutenkammer seien ergebnislos verlaufen.
Ausweislich einer Bescheinigung des Klinikums Bad Hersfeld vom 16.06.2010 - Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie - lag bei der Klägerin zu diesem Zeitpunkt keine psychiatrische Erkrankung vor, auch keine Essstörung.
Die Beklagte erbat daraufhin eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) in Hessen. In seiner sozialmedizinischen Stellungnahme vom 21.06.2010 gab der MDK folgende Beurteilung ab:
"Frau ... leidet seit Jahren unter einem erheblichen Übergewicht, das inzwischen einer Adipositas Grad III entspricht. Sie hat verschiedenste, allerdings nicht lang anhaltende Versuche mit eigenständigen Diäten durchgeführt und auch eine sechswöchige stationäre Rehabilitation im Jahr 2000. Dem jetzt vorliegenden Ernährungsprotokoll vom 12.04. bis 25.04.2010 ist jedoch zu entnehmen, dass die Ernährungsgewohnheiten Ihrer Versicherten noch sehr wechselnd sind. Annähernd jeden zweiten Tag kommt es zu Ernährungsfehlern mit dem Verzehr von hochkalorischen Hauptmahlzeiten, wobei zusätzlich immer wieder Süßigkeiten verzehrt werden. Die Versicherte ist auch weiterhin besonders süßen Speisen nicht abgeneigt und zeigt insgesamt eine deutliche überkalorische Ernährungsweise.
Im Hinblick auf das recht auffällige Ernährungsprotokoll kann davon ausgegangen werden, dass die bisherigen Ernährungsberatungen bei Ihrer Versicherten nicht ausreichend waren. Es erfolgte noch keine mindestens sechs Monate andauernde multimodale Behandlung unter Leitung eines qualifizierten Ernährungsmediziners um eine Verhaltensänderung zu bewirken.
Zusammenfassend ist die vorgesehen Operation mit laparoskopischer Anlage eines Magen-Bypass zur Gewichtsreduktion zwar geeignet und erprobt, allerdings im Falle Ihrer Versicherten noch nicht als Ultima ratio anzusehen. Zunächst sollte eine sechsmonatige multimodale Ernährungsberatung mit gleichzeitiger Verhaltenstherapie erfolgen."
Die Beklagte lehnte den Antrag auf Übernahme der Kosten daraufhin mit Bescheid vom 25.06.2010 ab. Zugleich teilte sie der Klägerin mit, eine Ernährungsberatung oder eine Teilnahme an einem Kurs zur Gewichtsreduktion zu bezuschussen, und stellte der Klägerin eine Liste mit entsprechenden Anbietern zur Verfügung.
Die Klägerin widersprach der Entscheidung am 21.07.2010 und legte der Beklagten eine Bescheinigung der Dr. M. über die von der Klägerin seit 1999 besuchten Weight-Watchers-Treffen vor.
In einer weiteren sozialmedizinischen Stellungnahme vom 30.07.2010 führte der MDK aus, dass die konservativen Therapieoptionen nach wie vor nicht ausreichend genutzt worden seien. Die Teilnahme an einem multimodalen Behandlungskonzept über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten vor einem adipositas-chirurgischen Eingriff sei wichtig, um einen dauerhaften Erfolg auch nach der...