Entscheidungsstichwort (Thema)
sozialgerichtliches Verfahren. Anwendbarkeit des § 131 Abs 5 S 1 SGG auf kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Verletzung der Amtsermittlungspflicht. Nachholung des Verwaltungsverfahrens
Leitsatz (amtlich)
1. § 131 Abs 5 S 1 SGG ist grundsätzlich auch im Rahmen der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage anwendbar und nicht auf reine Anfechtungsklagen beschränkt (Urteil des LSG Essen vom 11.5.2005 - L 8 RJ 141/04; Gerichtsbescheid des SG Dresden vom 11.8.2005 - S 18 KR 304/05; Urteil des SG Landshut vom 1.10.2004 - S 79 SB 310/04 = VersorgVerw 2005, 66).
2. Stellt ein versicherter Unternehmer bei seiner zuständigen Berufsgenossenschaft (BG) einen Antrag auf Neuveranlagung wegen einer Änderung des Unternehmensgegenstandes nach § 160 SGB 7 und begründet diesen, so genügt die BG in keinster Weise den Grundsätzen an ein geordnetes Verwaltungsverfahren unter Berücksichtigung des Amtsermittlungsprinzips (§ 20 Abs 1 SGB 10), wenn sie lediglich aufgrund eines im Internet (ohne Datum) veröffentlichten Branchenregisterausdrucks zum Telefonbuch den Antrag zurückweist. Die BG ist insoweit zu verpflichten, ein geordnetes Verwaltungsverfahren nachzuholen (§ 131 Abs 5 S 1 SGG).
Tatbestand
Die Beteiligten streiten wegen der Höhe der Beiträge und der Einordnung zur richtigen Gefahrtarifstelle und Gefahrklasse nach dem gültigen Gefahrtarif der Beklagten.
Die Klägerin betreibt ein Werbeunternehmen mit dem Namen “A.". Zwischen den Beteiligten war die Einstufung zur Gefahrtarifstelle 34 mit der Gefahrklasse 1,41 unter dem ab 01.01.1998 geltenden Gefahrtarif der Beklagten schon einmal streitig. In dem insoweit vor dem Sozialgericht Gießen anhängig gewesenen Streitverfahren (Aktenzeichen S 1 U 1831/99) wies der Vorsitzende die Beteiligten mit Verfügung vom 24.05.2000 darauf hin, dass die Gefahrtarifstelle in den vergangenen Jahren wiederholt gewechselt habe. Grundsätzlich bestehe eine hohe Ermessensfreiheit der Beklagten bei der Aufstellung des Gefahrtarifvertrags. Dies schließe eine grundsätzliche Überprüfung aber nicht aus. Derartige Verfahren seien jedoch für alle Beteiligten, wenn sie ernsthaft betrieben würden, äußerst umfangreich und schwierig. Angesichts des “Streitwertes" regte der Vorsitzende eine vergleichsweise Regelung an. Daraufhin schlossen die Beteiligten einen außergerichtlichen Vergleich, der Rechtsstreit war am 19.09.2000 durch diesen Vergleich beendet.
Aufgrund des ab 01.01.2001 geltenden neuen Gefahrtarifvertrags veranlagte die Beklagte das klägerische Unternehmen mit Bescheid vom 27.06.2001 zur Gefahrtarifstelle 34 mit einer Gefahrklasse von 1,69 für das Jahr 2001 und von 1,88 ab dem Jahr 2002. Der Bescheid ist bestandskräftig geworden.
Am 26.04.2005 stellte die Klägerin einen Überprüfungsantrag und begründete diesen mit einer Änderung des Unternehmensgegenstandes. Sie führte aus, dass sie noch zum Zeitpunkt des zuletzt geschlossenen gerichtlichen Vergleichs ein Unternehmen der Außenwerbung betrieben habe. Zwischenzeitlich hätten sich diese Verhältnisse jedoch sehr stark in Richtung Werbung innerhalb geschlossener Räume verändert. Mit Bescheid vom 20.05.2005 wies die Beklagte diesen Antrag zurück. Die Klägerin legte hiergegen am 25.05.2005 Widerspruch ein und führte zur Begründung aus, sie gehöre nicht mehr zur entsprechenden Risikogemeinschaft der “Außenwerbung". Die Außenwerbung habe ein wesentlich größeres Gefahrenpotential als die hauptsächlich von ihr praktizierte Innenwerbung. Im Widerspruchsverfahren zog die Beklagte einen Branchenbucheintrag aus dem Internet von “opusforum" bei. Dort ist als sogenannte “Brancheninfo" für das klägerische Unternehmen angegeben: “Außenwerbungsunternehmen; Außen- und Lichtwerbeunternehmen; Informationstechnologie und Telekommunikation gesamt".
Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 03.08.2005 zurück.
Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer am 11.08.2005 beim Sozialgericht Gießen eingegangenen Klage. Zur Begründung führt sie aus, dass sie etwa zehn Beschäftigte habe, wobei es sich bis auf eine Ausnahme ausschließlich um Verwaltungsmitarbeiter handele. Sie habe lediglich einen Mitarbeiter, der im Außendienst in erster Linie zur Überprüfung der Werbeobjekte vor Ort zuständig sei und gelegentlich auch bei der Montage mithelfe. Die Werbeflächen würden von Fremdunternehmen hergestellt und auch überwiegend von Fremdunternehmen an vereinbarten Werbeorten installiert. Dabei handele es sich hauptsächlich um Innenwerbung.
Einen Klageantrag hat die Klägerin nicht gestellt.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Ansicht, die Klägerin sei der richtigen Gefahrtarifstelle zugeordnet.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Klage- und die lediglich auszugsweise übersandte Verwaltungsakte der Beklagten über das klägerische Unternehmen Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 20.01.2006 gewesen sind.
Entscheidungsgründe
D...