Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. EuGH-Vorlage des BSG. Pflicht zur vorläufigen Leistungsgewährung. Ermessensreduzierung. verfassungskonforme Auslegung
Leitsatz (amtlich)
1. Als Folge der EuGH-Vorlage des BSG vom 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R = ZFSH/SGB 2014, 158 haben die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende Unionsbürgern, die von ihrem Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) Gebrauch machen und sich in der Bundesrepublik Deutschland ausschließlich zum Zwecke der Arbeitsuche aufhalten, Arbeitslosengeld II aufgrund der Regelung in § 40 Abs 2 Nr 1 SGB 2 iVm § 328 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB 3 vorläufig zu gewähren, sofern die Leistungsvoraussetzungen im Übrigen vorliegen.
2. Im Rahmen des nach § 328 Abs 1 S 1 SGB 3 auszuübenden Ermessens stellt sich die vorläufige Gewährung von Arbeitslosengeld II als allein mögliche Entscheidung dar, weil auf andere Weise das aus Art 1 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip des Art 20 Abs 1 GG abgeleitete - unverfügbare - Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums des Antragstellers nicht garantiert werden kann.
3. Mit dem aus Art 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art 20 Abs 1 GG abgeleiteten Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist es nicht vereinbar, Menschen, die sich in Deutschland aufhalten und nicht in der Lage sind, aus eigenen Kräften und Mitteln ein menschenwürdiges Dasein aufrechtzuhalten, von Leistungen auszuschließen, die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums unbedingt erforderlich sind.
4. Indem die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende darauf beharren, sie seien verpflichtet, Leistungen wegen § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 zu versagen, verkennen sie in grober Weise, dass eine Ermessensentscheidung nach § 328 Abs 1 S 1 SGB 3 gerade wegen der EuGH-Vorlage des Bundessozialgerichts eröffnet ist.
5. Die Frage, ob eine endgültige Entscheidung über den Leistungsanspruch einer vorläufigen Leistungsbewilligung entgegensteht, stellt sich nicht, wenn die endgültige Entscheidung die Leistungsablehnung zum Inhalt hat.
Tenor
Der Antragsgegner wird verpflichtet, vorläufig für die Zeit ab dem 1. September 2014 bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 31. Dezember 2014 monatlich der Antragstellerin zu 1) 634,12 EUR, der Antragstellerin zu 2) 179,36 EUR, der Antragstellerin zu 3) 141,36 EUR, der Antragstellerin zu 4) 179,36 EUR zu gewähren.
Der Antragsgegner hat den Antragstellerinnen zu 1) bis 4) die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I.
Die Antragstellerinnen zu 1) bis 4) begehren von dem Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.
Die 1985 geborene Antragstellerin zu 1) sowie ihre 2004, 2009 und 2006 geborenen Kinder, die Antragstellerinnen zu 2) bis 4), sind sämtlich rumänische Staatsangehörige. Sie reisten im Jahre 2013 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wie auch der Ehemann der Antragstellerin zu 1), der rumänische Staatsangehörige M. D. (fortan: Ehemann), der nach Angaben der Antragstellerinnen bis zu seiner vorläufigen Festnahme als Altmetalltrödler selbständig war. Tatsächlich meldete er ab dem 21. Mai 2013 bei der Stadt M. als Gewerbe den An- und Verkauf von Schrott und Altmetall an. Laut Meldebestätigung der Stadt M. vom 19. Juni 2014 nahm der Ehemann am 13. Mai 2013 unter der Anschrift W.er Straße, Me., seine alleinige Wohnung. Außerdem waren unter der genannten Anschrift als seine Familienmitglieder die Antragstellerinnen zu 1), 3) und 4) gemeldet. Aus weiteren Bescheinigungen der Stadt M. vom 19. Juni 2014 geht hervor, dass die Antragstellerinnen zu 1) und 2) am 5. Juni 2013 unter der Anschrift W.er Straße, Me., alleinige Wohnung genommen hatten. Zwischen November 2013 und 26. März 2014 hielten sich die Antragstellerinnen und Herr D. in Rumänien auf. Bei Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland wurden sie nach eigenen Angaben zunächst bei der Familie A. aufgenommen, weil die in Me. gemietete Wohnung zwischenzeitlich vom Vermieter weitervermietet worden sei. Laut Anmeldebestätigung der Stadt H. vom 19. Juni 2014 nahmen die Antragstellerinnen zu 1) bis 4) und Herr D. am 1. Mai 2014 alleinige Wohnung unter der Anschrift W.er Straße, H ... Laut Mietvertrag vom 8. April 2014 hat die Wohnungsgesellschaft ab dem 1. Mai 2014 unter der genannten Anschrift die Wohnung Nummer ... an Herrn D. vermietet. Die Gesamtmiete beträgt danach 409,45 EUR monatlich. Seit dem 23. Mai 2014 befindet sich Herr D. in Untersuchungshaft in der JVA L., wie auch der Bruder der Antragstellerin zu 1), Herr C. A. Laut Haftbefehl wurde der Ehemann am 23. Mai 2014, 1.20 Uhr festgenommen. Er wird des schweren Bandendiebstahls beschuldigt. Laut Haftbefehl war der Ehemann bei seiner Festnahme ohne festen Wohnsitz. Jeweils mit S...