Leitsatz (amtlich)
Die Zeit der während der deutschen Besatzungsherrschaft verrichteten Zwangsarbeit eines NS-Verfolgten ist auch dann als verfolgungsbedingte Ersatzzeit anzurechnen, wenn die Zwangsarbeit unter nicht haftähnlichen Bedingungen verrichtet wurde.
Nachgehend
Tenor
1. Die Bescheide der Beklagten vom 10.8.1999 und 15.1.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.2.2004 werden abgeändert.
2. Die Beklagte wird verurteilt, für den Kläger auch die Zeit vom 1.11.1939 bis zum 7.1.1940 als verfolgungsbedingte Ersatzzeit anzuerkennen.
3. Die Beklagte trägt ½ der außergerichtlichen Kosten des Klägers dem Grunde nach.
Tatbestand
Der Kläger bezieht eine Altersrente unter Berücksichtigung von Zeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungszeiten im Ghetto (ZRBG). Er begehrt die Anerkennung weiterer Versicherungszeiten und daraus resultierend eine höhere Altersrente.
Der Kläger wurde am X.X.1922 in B. geboren. Er ist jüdischen Glaubens. Im dritten oder vierten Lebensjahr siedelte der Kläger mit seiner Familie nach Bedzin über. Bis ins Jahr 1939 besuchte er dort die Schule.
Den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erlebte der Kläger mit seiner Familie in Bedzin. Die genaueren Lebensumstände während der ersten Monate nach dem Einmarsch der deutschen Besatzungstruppen im September 1939 sind Gegenstand dieses Verfahrens (dazu unten). Seinen eigenen Angaben im Verfahren nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) zufolge befand sich der Kläger ab Juni 1941 in einem in Bedzin eingerichteten Ghetto. Von dort gelangte er im Juni 1943 zunächst in das Konzentrationslager Auschwitz, von wo er später weiter in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt wurde. Nach den Angaben des Klägers im Entschädigungsverfahren wurde er im Krankenbau des Konzentrationslagers Sachsenhausen Opfer medizinischer Experimente. Während eines Evakuierungsmarsches aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen in Richtung L. gelang dem Kläger am 1.5.1945 in der Nähe von S. die Flucht.
Der Kläger lebt seit 1950 in den USA und ist mittlerweile US-amerikanischer Staatsangehöriger. Er ist als Verfolgter des Nationalsozialismus anerkannt und hat vom Regierungspräsidenten in Darmstadt für die erlittene Freiheitsentziehung und die davongetragenen Schäden an Körper und Gesundheit Leistungen zur Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) erhalten.
Auf einen Antrag vom 6.3.1998 bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 17.9.1999 eine Regelaltersrente in Höhe von monatlich 982,98 DM. Auf einen weiteren Antrag vom 15.10.2002 änderte die Beklagte die Rentenbewilligung mit Bescheid vom 15.1.2003 dahingehend, dass die Rentenhöhe nunmehr 535,07 EUR monatlich betrug. Dieser Rentenberechung waren zugrunde gelegt worden u.a. Verfolgungsersatzzeiten vom 8.1.1940 bis zum 14.1.1942. Die Anerkennung von Verfolgungsersatzzeiten auch für die Monate September bis Dezember 1939 hatte die Beklagte jedoch abgelehnt.
Der insoweit erhobene Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 23.2.2004 zurückgewiesen. Zur Begründung führte die Beklagte aus, dass nach § 250 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) i.V.m. §§ 43, 47 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) eine Ersatzzeit u.a. dann anzuerkennen sei, wenn eine Freiheitsentziehung im Sinne des § 43 BEG oder eine Freiheitsbeschränkung im Sinne des § 47 BEG vorgelegen habe. Eine Freiheitsbeschränkung im Sinne des § 47 BEG liege jedoch nur dann vor, wenn der Verfolgte in der Zeit vom 30.1.1933 bis zum 8.5.1945 den sog. „Judenstern” getragen oder unter menschenunwürdigen Bedingungen in der Illegalität gelebt habe. In Ostoberschlesien und folglich auch in Bedzin sei die Kennzeichnung der jüdischen Bevölkerung erst mit Wirkung vom 8.1.1940 angeordnet worden. Andere Tatbestände der Freiheitsbeschränkung seien ausdrücklich nicht vom Gesetzeswortlaut erfasst. Da auch keine andere Alternative des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI greife, könne eine verfolgungsbedingte Ersatzzeit für den Kläger erst ab dem 8.1.1940 anerkannt werden.
Gegen diesen Bescheid hat der frühere Bevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 30.3.2004, Eingang bei Gericht am 31.3.2004, Klage erhoben. Zur Begründung hat die später hinzugetretene Bevollmächtigte des Klägers ausgeführt, dass der Kläger schon kurz nach Beginn der Besatzungszeit Zwangsarbeit für die Deutschen habe leisten müssen. Allein aus diesem Umstand ergebe sich das Vorliegen einer verfolgungsbedingten Freiheitsbeschränkung im Sinne von § 250 SGB VI. Darüber hinaus habe jeder Arbeitszwang letztlich eine erhebliche Einschränkung der persönlichen Freiheit des Betroffenen zur Folge. Im Falle des Klägers sei schon vor dem 8.1.1940 unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände sogar von einer Freiheitsentziehung im Sinne von § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI auszugehen.
Nachdem die Bevollmächtigte des Klägers ursprünglich die Anerkennung verfolgungsbedingter Ersatzzeiten auch für die Zeit von September 1939...