Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Wegeunfall. sachlicher Zusammenhang. geringfügige Unterbrechung. eigenwirtschaftliche Tätigkeit. Kaufen eines "Coffee-to-go" im Vorübergehen. aktuelle BSG-Rechtsprechung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Verrichtung (unmittelbar) vor dem Unfallereignis muss als rechtlich relevante Wirkursache in einem sachlichen Zusammenhang mit seiner versicherten Tätigkeit stehen. Das Kaufen eines "Coffee-to-go" stellt eine eigenwirtschaftliche und unversicherte Handlung dar.
2. Der Versicherungsschutz wird nicht nach den (ehemaligen) Grundsätzen einer "geringfügigen Unterbrechung" begründet. Im Lichte der aktuellen Rechtsprechung des BSG (insbesondere im Bereich des Wegeunfalles bzw Home-Office), kann es dieses Rechtsinstitut nicht mehr geben. Das BSG stellt nach der neuen Rechtsprechung zur Begründung des sachlichen Zusammenhanges konsequent auf die Handlungstendenz eines Versicherten vor bzw zum Zeitpunkt des Unfallereignisses ab (vgl BSG vom 4.7.2013 - B 2 U 12/12 R = SozR 4-2700 § 8 Nr 49 (Tankstelle); Urteil vom 4.7.2013 - B 2 U 3/13 R = SozR 4-2700 § 8 Nr 50 (Erdbeerkauf); Urteil vom 17.12.2015 - B 2 U 8/14 R = SozR 4-2700 § 8 Nr 55 (Bahnsteig) und insbesondere W Spellbrink aaO). Für die Prüfung ist dabei regelmäßig die kleinste beobachtbare Handlungssequenz maßgebend (vgl Spellbrink "Unfallversicherungsschutz bei Tätigkeiten im Home-Office und bei Rufbereitschaft", NZS 2016, 527, 528; ders "Gemischte Tätigkeit und gemischte Motivationslage bei der Feststellung von Arbeitsunfällen", WzS 2011, 351, 354). Diese klare und in sich schlüssige Rechtsprechung führt dazu, dass der Versicherungsschutz transparent und vorhersehbar ist. Es bleibt insoweit kaum mehr Raum für die sachliche Zurechnung bei einer " nicht genau (zeitlich) definierten" "geringfügigen" Unterbrechung.
3. Die in der Rechtsprechung und Literatur genannten Beispiele einer "versicherten geringfügigen Unterbrechung", dass etwas "im Vorbeigehen" oder "ganz nebenher" erledigt werde (vgl hierzu beispielsweise G Wagner in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 2. Aufl. 2014, § 8 SGB VII, Rn 57), sodass Versicherungsschutz trotz eigenwirtschaftlicher Handlungstendenz begründet werde, ist nicht mehr zu folgen. Dies gilt umso mehr, wenn sich das Unfallereignis konkret aus der eigenwirtschaftlichen Tätigkeit ergibt bzw kausal entwickelt. Insoweit ist nach Auffassung der Kammer kein sachlicher Grund dafür gegeben, die Zurechnung eines wesentlich durch eigenwirtschaftliches Handeln geprägtes Unfallgeschehen zum Unfallversicherungsträger zu begründen.
Tenor
1. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die ihr aus Anlass des Ereignisses des Beigeladenen vom 15.1.2015 entstandenen Kosten in Höhe von 4726,64 Euro, nach Maßgabe der für die Beklagte geltenden gesetzlichen Bestimmungen, zu erstatten.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Sprungrevision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.
4. Der Streitwert wird auf 4726,64 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Erstattungsverfahrens über die Feststellung des Ereignisses vom 15.1.2015 als Arbeitsunfall.
Der 1956 geborene Beigeladene ist bei der Klägerin über sein Beschäftigungsverhältnis als Leiharbeitnehmer gegen Arbeitsunfälle, bei der Beklagten gegen Krankheit versichert. Nach dem Durchgangsarztbericht (DAB) vom 15.1.2015 war der Beigeladene um 11:30 Uhr auf dem Weg zur Arbeit im Hauptbahnhof der Stadt H. als er auf einer Plastiktüte ausrutschte und sich mit der rechten Hand versuchte abzufangen. Der Durchgangsarzt stellte eine dislozierte Radiusfraktur rechts fest, die operativ versorgt werden musste. Der Beginn seiner Arbeitszeit wurde nach dem DAB und der Unfallanzeige mit 13:30 Uhr angegeben. Der Beigeladene sollte am 15.1.2015 bei der Firma D. GmbH, F. in L. in der dortigen Packstation eingesetzt werden. Die Zeit für den Weg vom Hauptbahnhof H., zu seiner Arbeitsstelle in L. beträgt - nach „G.-Maps-Routenplaner“ - mit S-Bahn (Linie S 3) und weiter zu Fuß ca. 35 - 45 Minuten.
In einem Ermittlungsfragebogen der Klägerin antwortete der Beigeladene unter dem 22.2.2015 handschriftlich zu der Frage: Zu welchem Zweck haben sie sich dort aufgehalten? „Um mir bei S. einen Kaffee zu kaufen". Weiter wird in dem Fragebogen durch den Beigeladenen ausgeführt: „Im Hauptbahnhof am Stand S. lag eine Plastikscheibe auf dem Boden. Diese hatte ich nicht gesehen und bin ausgerutscht. Dabei habe ich mich mit der rechten Hand abgefangen". Auf einem weiteren Fragebogen beantwortete der Beigeladene ebenfalls unter dem 22.2.2015 die Fragen: Wollten sie den Kaffee mit zu ihrer Arbeitsstelle nehmen (Coffee-to-go) oder wollten sie diesen gleich vor Ort trinken? „Ich wollte ihn in der S3 trinken"; Aus welchem Grund traten sie ihren Arbeitsweg bereits so frühzeitig an (Arbeitsbeginn erst 13:30 Uhr)? „Ich hatte noch Mittag gegessen".
Mit Bescheid vom 3.3.2015 lehnte die Klägerin die Anerkennung des Ereignisses vom 15.1.2015 gegenüber dem Beigeladene...