Entscheidungsstichwort (Thema)
Minderung des Arbeitslosengeld II. Rechtsprechung des BVerfG. Anforderungen an die vorherige Rechtsfolgenbelehrung. Überprüfung nicht bestandskräftiger Sanktionsbescheide. verfassungskonforme Auslegung
Leitsatz (amtlich)
1. Die sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5.11.2019 - 1 BvL 7/16 = BVerfGE 152, 68 ergebenden Anforderungen an eine richtige und vollständige Rechtsfolgenbelehrung sind bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit von nicht bestandskräftigen Bescheiden über Leistungsminderungen nach § 31a Abs 1 S 1 SGB II, die vor dessen Verkündung festgestellt worden sind, zu berücksichtigen, weil den Weitergeltungsanordnungen nach Nr 2 des Tenors der Entscheidung keine rückwirkende Legalisierungswirkung zukommt.
2. Ein solcher Bescheid erweist sich daher nur dann als rechtmäßig, wenn die vorherige Rechtsfolgenbelehrung gemäß § 31 Abs 1 S 1 SGB II den Vorgaben von Nr 2a und Nr 2c des Tenors der Entscheidung entsprochen hat.
Tenor
1. Der Sanktionsbescheid vom 09.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.01.2017 wird aufgehoben.
2. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
3. Die Berufung wird nicht gesondert zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen einen Sanktionsbescheid vom 09.11.2016 in der Gestalt eines Widerspruchsbescheides vom 16.01.2017.
Am 23.08.2016 stellte die Klägerin beim Beklagten einen Antrag auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), nachdem ihr Arbeitsverhältnis durch ihren damaligen Arbeitgeber mit Schreiben vom 15.08.2016 zum 15.09.2016 gekündigt worden war. Am 19.08.2016 schlossen die Klägerin und der Beklagte eine Eingliederungsvereinbarung ab, wonach sich die Klägerin unter anderem dazu verpflichtete, alle zumutbaren Möglichkeiten zur Einkommenserzielung zu nutzen. Die Rechtsfolgenbelehrung der Eingliederungsvereinbarung lautete wie folgt:
„Die §§ 31 bis 31b Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) sehen bei Verstößen gegen die in der Eingliederungsvereinbarung festgelegten Pflichten Leistungsminderungen vor. Das Arbeitslosengeld II kann danach - auch mehrfach nacheinander - gemindert werden oder vollständig entfallen.
Wenn Sie erstmals gegen die mit Ihnen vereinbarten Eingliederungsbemühungen verstoßen (siehe Nr. 2. Bemühungen des Kunden), wird das Ihnen zustehende Arbeitslosengeld II um einen Betrag in Höhe von 30 Prozent des für Sie maßgebenden Regelbedarfs zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 20 SGB II gemindert.
Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass bei einem wiederholten Verstoß gegen die mit Ihnen vereinbarten Bemühungen das Arbeitslosengeld II um einen Betrag in Höhe von 60 Prozent des für Sie maßgebenden Regelbedarfs gemindert wird. Die Kosten der Unterkunft und Heizung werden dann in der Regel direkt an Ihren Vermieter oder einen sonstigen Empfangsberechtigten gezahlt.
Bei weiteren wiederholten Pflichtverstößen entfällt Ihr Arbeitslosengeld II vollständig.
Die Minderung dauert drei Monate (Sanktionszeitraum) und beginnt mit dem Kalendermonat nach Zugang des Sanktionsbescheides. Während dieser Zeit besteht kein Anspruch auf ergänzende Hilfen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (Sozialhilfe).
Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn Sie für Ihr Verhalten einen wichtigen Grund darlegen und nachweisen. Folglich tritt keine Leistungsminderung ein. Ein nach Ihrer Auffassung wichtiger Grund, der jedoch nach objektiven Maßstäben nicht als solcher anerkannt werden kann, verhindert nicht den Eintritt der Leistungsminderung.“
Am 26.09.2016 schloss die Klägerin einen befristeten Arbeitsvertrag ab dem 27.09.2016 ab. Am 06.10.2016 teilte die Klägerin dem Beklagten mit, sie habe aufgrund ihrer psychischen Erkrankung die Arbeit nicht antreten können und der Arbeitsvertrag sei daher nichtig. Sie sei bis zum 02.11.2016 von ihrem Hausarzt krankgeschrieben worden, habe einen Termin bei ihrer Neurologin und strebe einen stationären Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik an. Nach dem Attest ihres Hausarztes vom 30.09.2016 war die Klägerin vom 30.09.2016 bis zum 02.11.2016 arbeitsunfähig erkrankt.
Mit Bewilligungsbescheid vom 18.10.2016 bewilligte der Beklagte der Klägerin Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.08.2016 bis zum 31.07.2017. Mit Schreiben vom 18.10.2016 wurde die Klägerin zudem zu einer möglichen Sanktion wegen des Nichtantritts der Erwerbstätigkeit angehört. Mit Schreiben vom 27.10.2016 teilte die Klägerin mit, sie sei am 27.09.2016 wegen Übelkeit, Bauchschmerzen und Angstzuständen nicht in der Lage gewesen, die Arbeit anzutreten. Sie habe auch erst am 30.09.2016 zu ihrem Hausarzt gehen können und ihm berichtet, dass es ihr seit Tagen schlecht gehe. Sie habe ihren Hausarzt nun erneut aufgesucht, dieser dürfe sie allerdings nicht rückwirkend nach einem Monat krankschreiben. Dem Schreiben war eine weitere Attestierung des Hausarztes der Klägerin vom 27.10.2016 beigefügt, wonach die Klägerin ihm gegenüber glaubhaft versichert habe, dass sie bereits ab ...