Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Zahnimplantatversorgung. durch Parodontitis verursachte Zahnlosigkeit im Unterkiefer. Anforderungen an das Vorliegen einer Ausnahmeindikation iSd § 28 Abs 2 S 9 SGB 5. Auslegung der Begriffe "Gesamtbehandlung" und "Seltenheit". Unterscheidung zwischen kurativer Krankenbehandlung und Leistungen zur Teilhabe

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der durch eine Parodontitis verursachte zahnlose Unterkiefer erfüllt die Voraussetzungen einer Ausnahmeindikation iS des § 28 Abs 2 S 9 SGB 5 iVm der Richtlinie des G-BA für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Versorgung (ZÄBehRL).

2. Eine medizinische "Gesamtbehandlung" liegt auch dann vor, wenn es sich lediglich um eine zahnmedizinische Behandlung handelt, bei der Implantate und in einem zweiten Schritt die dazugehörige Suprakonstruktion zur Wiederherstellung der Kaufunktion eingegliedert werden (entgegen BSG vom 19.6.2001 - B 1 KR 4/00 R = BSGE 88, 166 = SozR 3-2500 § 28 Nr 5, RdNr 20).

3. "Seltene" Ausnahmeindikationen liegen auch dann vor, wenn zwar nicht die Erkrankung (Parodontitis) an sich, aber die Schwere der behandlungsbedürftigen Beeinträchtigung (vollständige Zahnlosigkeit) selten ist.

4. An das Vorliegen einer Ausnahmesituation sind keine zusätzlichen qualifizierten Anforderungen zu stellen (entgegen BSG vom 13.7.2004 - B 1 KR 37/02 R = juris RdNr 22). Eine allzu restriktive Auslegung der Anspruchsnorm würde dazu führen, dass auch bei einer medizinisch alternativlosen Implantatversorgung die Kosten von Versicherten eigenverantwortlich zu tragen sind, was nicht immer möglich ist und in nicht wenigen Fällen zur Folge hat, dass Versicherte hinsichtlich eines elementaren Grundbedürfnisses unversorgt bleiben. Die vom BSG vorgenommene Konkretisierung der maßgeblichen Rechtsbegriffe ist nach Wortlaut und Gesetzesmaterialien nicht zwingend, berücksichtigt den Willen des parlamentarischen Gesetzgebers nicht hinreichend und ist im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz in Art 3 Abs 1 GG sowie teilhaberechtliche Vorgaben problematisch.

 

Orientierungssatz

1. Auch ein Eigen- oder Mitverschulden bei der Verursachung einer Parodontitis schließt das Vorliegen einer Ausnahmeindikation nicht aus.

2. Zur Unterscheidung zwischen kurativer Krankenbehandlung (Krankheitsbegriff) und Leistungen zur Teilhabe (Behinderungsbegriff).

 

Tenor

Der Bescheid vom 2. Januar 2018 in seiner Fassung vom 15. Januar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. März 2018 wird aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die für die Verankerung von Zahnersatz im Unterkiefer medizinisch erforderlichen implantologischen Leistungen zu gewähren.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte trägt 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der beklagten Krankenkasse eine Versorgung mit Zahnimplantaten nebst Suprakonstruktion.

Die 1954 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie bezieht aufstockende Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).

Aufgrund einer ausgeprägten Parodontitis bildeten sich bei der Klägerin tiefe Zahnfleischtaschen, so dass im weiteren Verlauf sämtliche Zähne im Ober- und Unterkiefer entfernt werden mussten. In der Folge kam es zu einem horizontalen Abbau des Kieferknochens mit massiven vertikalen Einbrüchen. Am 10. Oktober 2017 wurde die Klägerin mit herausnehmbaren Totalprothesen im Ober- und Unterkiefer versorgt. Die Beklagte bewilligte antragsgemäß einen Festzuschuss in Höhe von 1.415,34 Euro (Bescheid vom 18. September 2017).

Am 20. November 2017 teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass die Prothese im Unterkiefer keinen festen Halt habe. Auch mit Anwendung von Haftcremes würden die Lippen die Unterkieferprothese beim Sprechen und Essen herausstoßen. Der Kiefer sei wegen des lockeren Prothesensitzes bereits wund. Daraufhin beauftragte die Beklagte den Zahnarzt H. mit einer Begutachtung der aktuellen Versorgungssituation der Klägerin. In einer Stellungnahme vom 11. Dezember 2017 führte der Gutachter folgendes aus:

“Bei der Patientin wurden, wie auf dem HKP vorgesehen, im OK und UK jeweils Totalprothesen eingegliedert. Die OK-Prothese wird von der Patientin nicht bemängelt. Im Unterkiefer bemängelt die Patientin den schlechten Prothesenhalt und Druckstellen. Okklusion und Ästhetik sind regelgerecht und werden von der Patientin auch nicht beanstandet.

Die intraoralen Inspektion zeigt, dass die Prothese bereits bei der Mundöffnung vom Prothesenlager abhebt. Fixiert man die Prothese mit der Hand, so erkennt man, dass die Prothesenbasis dem Prothesenlager überall formkongruent anliegt. Die Funktionsränder sind korrekt ausgeformt. Allerdings setzt die bewegliche Schleimhaut vestibulär im gesamten Unterkiefer nahe des Kieferkammes an, frontal praktisch auf Kieferkammniveau. Aus anatomischen Gründen kann die Prothesenbasis hier wegen der fortgeschrittenen Kieferkammatrophie das Pro...

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