Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistungen. Analogleistungen. Regelbedarf in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 bei Unterbringung in einer Sammelunterkunft. Anwendbarkeit der Übergangsregelung des § 15 AsylbLG. tatsächliches gemeinsames Wirtschaften. Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Für die Anwendung der Regelbedarfsstufe 2 kommt es nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschriften nicht darauf an, ob tatsächlich in der Gemeinschaftsunterkunft gemeinsam gewirtschaftet wird.
2. Zur Verfassungsmäßigkeit von § 2 Abs 1 S 4 Nr 1 AsylbLG.
Orientierungssatz
1. Die Übergangsvorschrift des § 15 AsylbLG findet auf den vorliegenden Sachverhalt keine Anwendung.
2. Az beim LSG Stuttgart: L 7 AY 2093/21
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung höherer Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) unter Eingruppierung in die Regelbedarfsstufe 1 ab 01.10.2019.
Der 1990 geborene Kläger hat die iranische Staatsangehörigkeit. Am 03.12.2016 reiste er in die Bundesrepublik Deutschland ein. Zur Durchführung des noch nicht abgeschlossenen Asylverfahrens verfügt er über eine Aufenthaltsgestattung. Seit 29.06.2017 befindet sich der Kläger in einer Gemeinschaftsunterkunft in …. Diese verfügt über 42 Plätze. Küche und Bad werden gemeinsam genutzt, der Beklagte stellt W-LAN zur Verfügung.
Vom 29.06.2017 bis 30.11.2018 bezog der Kläger Grundleistungen nach §§ 1, 3 AsylbLG (Bescheid vom 06.07.2017). Mit Bescheid vom 14.11.2018 hob der Beklagten den Bescheid vom 06.07.2017 ab 01.12.2018 auf und bewilligte ab diesem Zeitpunkt dem Grunde nach Leistungen nach den §§ 2, 5 und 8 ff. iVm mit dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII). Für den Monat Dezember 2018 wurde die Leistung iHv 359 € bewilligt. In der Folgezeit wurde ohne weitere Bescheide die Leistung gezahlt, zuletzt für September 2019 iHv 367 €. Für die Zeit vom 01.04. bis 30.09.2018 erhielt der Kläger eine Nachzahlung, da die Voraussetzungen für Analogleistungen bereits ab 01.04.2018 erfüllt waren (Bescheid vom 09.05.2019).
Ab Oktober 2019 zahlte der Beklagte lediglich 320 € monatlich aus. Der Kläger legte am 19.11.2019 Widerspruch ein und verlangte die Auszahlung der einbehaltenen Beträge. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe festgestellt, dass das Existenzminimum absolut sei und nicht eingeschränkt werden könne.
Bereits am 18.11.2019 hatte der Kläger beim Sozialgericht Heilbronn (SG) Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt und eine monatliche Zahlung iHv 367 € anstatt 320 € gefordert. Der Antrag blieb ohne Erfolg (Beschluss des SG vom 17.12.2019, S 9 AY 3621/19 ER; nachgehend Landessozialgericht ≪LSG≫ Baden-Württemberg 03.02.2020, L 7 AY 210/20 ER-B).
Mit Bescheid vom 14.01.2020 bewilligte der Beklagte die Leistungen für 01.01.2020 iHv 423 € (327 € + 96 € Arbeitsgelegenheit).
Mit Widerspruchsbescheid vom 12.02.2020 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Zum 01.09.2019 sei das 3. Änderungsgesetz zum Asylbewerberleistungsgesetz in Kraft getreten mit der Einführung einer neuen Regelbedarfsstufe 2 für alleinstehende Personen in Gemeinschaftsunterkünften. Diese Änderung sei verwaltungstechnisch zum 01.10.2019 umgesetzt worden. Mit der Begrenzung auf 90% der Bedarfsstufe 1 werde der besonderen Bedarfslage von Menschen in Sammelunterkünften Rechnung getragen. Es sei davon auszugehen, dass insoweit Einspareffekte vorlägen, die denen von Paarhaushalten vergleichbar seien. Der Kläger erhalte aktuell Analogleistungen nach § 2 AsylbLG in der gesetzlich vorgeschriebenen Höhe von 327 €. Der Beklagte sei an die aktuelle Gesetzesfassung gebunden.
Hiergegen richtet sich die am 16.03.2020 zum SG erhobene Klage. Durch die Änderung des § 2 AsylbLG zum 01.09.2019 würden einander unbekannte und gezwungenermaßen zusammenlebende Erwachsene in Gemeinschaftsunterkünften in eine sozialrechtliche „Zwangspartnerschaft“ gezwungen, da sie wie Partner in einer Einstehensgemeinschaft der Regelbedarfsstufe 2 zugeordnet würden. Das Gesetz sei evident verfassungswidrig, da es das durch Art 1 Abs 1 Grundgesetz (GG) iVm dem Sozialstaatsprinzip des Art 20 Abs 1 GG garantierte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verletze (unter Hinweis auf BVerfG 09.02.2010, 1 BvL 1/09 und 18.07.2012, 1 BvL 10/10). Die vom Gesetzgeber behaupteten Einspareffekte (BT-Drs 19/10052 S 24) seien nicht belegt. Die angenommene Solidarisierung in der Gemeinschaftsunterkunft werde der Realität in Flüchtlingsunterkünften nicht gerecht. Voraussetzung für ein gemeinsames Wirtschaften sei ein gefestigtes gegenseitiges Vertrauen. Allein die Fluktuation in der Unterkunft verhindere üblicherweise den Aufbau eines solchen Näheverhältnisses. Dass Bewohner regelmäßig aus unterschiedlichen Herkunftsregionen und Kulturen stammten, woraus sich Verständigungsschwierigkeiten und Konflikte ergäben, stehe gemeinsamem Wirtschaften ebenfalls entgegen. Es bestehe keine nachvollziehbare, auf statistischen Werten beruhe...