Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Eingliederungshilfe. Trennung zwischen Fachleistungen und Unterhaltsleistungen. budgetneutrale Umstellung. pauschaler Abzug des Mehrbedarfszuschlags für Merkzeichen G. ungerechtfertigte Leistungskürzung für behinderte Menschen ohne Anspruch auf Grundsicherungsleistungen. Anspruch auf freie Verfügbarkeit der Mehrbedarfsleistung. Übergangsvereinbarung Baden-Württemberg

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zieht der Träger der Eingliederungshilfeleistungen bei den an die Einrichtung gezahlten Fachleistungen einen (fiktiven) Mehrbedarf für das Merkzeichen G ab, hat er dem Leistungsberechtigten den von der Einrichtung von diesem geforderten und gezahlten Differenzbetrag zu erstatten.

2. Zur "budgetneutralen Umstellung" nach der Übergangsvereinbarung in Baden-Württemberg zur Trennung der Fachleistungen von den existenzsichernden Leistungen zum 01.01.2020.

 

Orientierungssatz

1. Der Mehrbedarfszuschlag nach § 30 SGB 12 steht der leistungsberechtigten Person zur freien Verfügung und dient der Sicherstellung ihrer individuellen Mobilität (zB für die Nutzung von Fahrdiensten oder Taxen).

2. Durch die Übergangsvereinbarung zwischen dem Träger der Eingliederungshilfe, dem Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg (KVJS) und der Vereinigung der Leistungserbringer vom 18.4.2019 (Übergangsvereinbarung in Baden-Württemberg) kann der Leistungsanspruch nicht wirksam eigeschränkt werden.

 

Tenor

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 08.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.08.2020 verurteilt, dem Kläger für den Zeitraum 01.02.2020 bis 30.09.2021 die an die Einrichtung monatlich gezahlten 32,47 € zu erstatten.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Frage, ob der beklagte Eingliederungshilfeträger verpflichtet ist, einen weiteren Betrag iHv 32,47 € ab 01.02.2020 im Wege der Eingliederungshilfe zu übernehmen.

Der....geborene Kläger lebt seit 01.10.2001 in einer vollstationären Wohnform der Einrichtung .... Bei ihm besteht eine psychische Erkrankung und eine geistige Behinderung; ein Grad der Behinderung von 100 vH mit Merkzeichen G, H und B ist seit 1974 anerkannt. Der Kläger bezieht eine Altersrente sowie eine Betriebsrente und hat aufgrund der Höhe seines Einkommens keinen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.

Der Sozialhilfeträger bewilligte aufgrund der Übergangsvorschrift des § 140 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) dem Kläger mit Bescheid vom 10.12.2019 einen einmaligen Zuschuss zur Vermeidung einer Zahlungslücke für Januar 2020 iHv 855,18 €. Mit Bescheid vom 18.02.2020 hob er diesen Bescheid wieder auf und bewilligte stattdessen unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für Mittagsverpflegung iHv 64,60 € und eines Mehrbedarfs nach § 42 iVm § 30 Abs 1 Nr 1 SGB XII iHv 66,13 € einen Zuschuss iHv 985,91 €.

Mit Bescheid vom 17.02.2020 bewilligte der Beklagte als Leistungen der Eingliederungshilfe die Kosten der Fachleistungen in der Besonderen Wohnform (bisher vollstationäre Unterbringung) sowie der Tagesstruktur für Senioren in der Einrichtung ...ab 01.01.2020 bis 30.09.2021 in Höhe der vereinbarten und jeweils gültigen Vergütungssätze abzüglich eines ggf zu zahlenden Eigenanteils. Zugleich wurden die bisher erteilten Kostenzusagen zum 31.12.2019 aufgehoben. Ein vom Kläger zu zahlender Eigenanteil wurde in der Folgezeit nicht festgesetzt.

Der Betreuer des Klägers beantragte am 08.04.2020 die Zahlung aller Fachleistungen. Er legte eine Rechnung der Einrichtung an den Kläger vom 31.03.2020 vor, woraus sich ergab, dass der Beklagte auf die ausgewiesene Fachleistung (ehemals LT I.2.1) monatlich einen um 64,94 € erniedrigten Betrag zahlte. Diesen Betrag forderte die Einrichtung als „Korrektur Mehrbedarf Mobilität“ vom Kläger.

Mit streitigen Bescheid vom 08.05.2020 lehnte der Beklagte den Antrag auf Eingliederungshilfe in Form von Übernahme des Mehrbedarfs nach dem Merkzeichen G ab. Mit Überführung der Eingliederungshilfe in das Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) zum 01.01.2020 erhalte der Kläger ab 01.01.2020 Eingliederungshilfe in Form der reinen Fachleistungen (Besondere Wohnform sowie Tagesstruktur für Senioren). Aufgrund des noch nicht vorliegenden Rahmenvertrags sei in Baden-Württemberg eine Übergangsvereinbarung geschlossen worden, durch die die Trennung der Fachleistungen der Eingliederungshilfe von den existenzsichernden Leistungen zum Lebensunterhalt sowie die budgetneutrale Weitergewährung von Eingliederungshilfeleistungen ab 01.01.2020 ermöglicht worden sei. In § 6 Abs 11 der Übergangsvereinbarung sei zur Gewährung der Mehrbedarfe nach § 30 SGB XII folgendes geregelt: „Im Einzelfall sind bei der Gewährung der Eingliederungshilfeleistungen individuelle Mehrbedarfe iSd § 30 SGB XII im Rahmen der existenzsichernden Leistungen zu berücksichtigen. Maßgeblich ist, wer für die Deckung des jeweiligen Mehrbedarfs sorgt.“ Der KVJS habe in seine...

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