Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Hilfsmittelversorgung. Anspruch auf Versorgung mit einem "Schülerarbeitsplatz" zur Teilnahme am Schulunterricht. großzügigerer Maßstab bei Kindern und Heranwachsenden
Leitsatz (amtlich)
Eine sehbehinderte Versicherte, die an einer spastischen Zerebralparese leidet, kann für die Teilnahme am Schulunterricht die Versorgung mit einem "Schülerarbeitsplatz" beanspruchen.
Orientierungssatz
Bei Kindern und Heranwachsenden ist bei der Hilfsmittelversorgung ein großzügigerer Maßstab anzulegen, um ihrer weiteren Entwicklung Rechnung zu tragen.
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 20.04.2023 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 29.11.2023 und des Bescheides vom 21.06.2023 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 29.11.2023 verurteilt, die Klägerin mit der Vergrößerungssoftware SuperNova Magnifier & Speech, einem Notebook, zwei Monitoren, zwei Schwenkarmen, zwei Anschlusskabel und MS Office zu versorgen.
Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Versorgung mit der Vergrößerungssoftware SuperNova Magnifier & Speech, mit einem Notebook, zwei Monitoren, zwei Schwenkarmen, zwei Anschlusskabel und MS Office.
Die 2015 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie hat eine hochgradige Sehbehinderung und besucht die S.-Schule in N., ein sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung. Sie besucht die Außenklasse an der L.-Schule in B. Seit dem 09.03.2023 ist bei ihr der Pflegegrad 4 festgestellt (Pflegegutachten des Medizinischen Dienstes [MD] Baden-Württemberg vom 26.06.2023).
Am 03.04.2023 beantragte die Klägerin bei der Beklagten unter Vorlage des Kostenvoranschlages und des Angebots der Firma R. vom 03.04.2024 (3.976,00 Euro), der augenärztlichen Verordnung der Sehbehindertenambulanz des Universitätsklinikums T. vom 27.02.2023 sowie der Stellungnahme des Sonderpädagogischen Dienstes der N. vom 31.03.2023 die Versorgung mit der Vergrößerungssoftware SuperNova Magnifier & Speech, mit einem Notebook, zwei Monitoren, zwei Schwenkarmen, zwei Anschlusskabel und MS Office.
Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 20.04.2023 ab. Die Kosten für die beantragte Versorgung dürften nicht übernommen werden, da die Klägerin eine Sonderschule für Kinder mit einer körperlichen Behinderung besuche und diese für die Bereitstellung behinderungsspezifischer Hilfsmittel zuständig sei. Die Klägerin möge sich an den Schulträger wenden.
Hiergegen erhob die Klägerin am 17.05.2015 Widerspruch.
Am 07.06.2023 beantragte die Klägerin bei der Beklagten unter Vorlage des Kostenvoranschlages der Firma R. vom 07.06.2023 (1.618,05 Euro) sowie der augenärztlichen Verordnung der Sehbehindertenambulanz des Universitätsklinikums T. vom 25.05.2023 die Versorgung mit der Vergrößerungssoftware SuperNova Magnifier & Speech.
Die Beklagte lehnte auch diesen Antrag durch Bescheid vom 21.06.2023 mit inhaltsgleicher Begründung ab. Die Kosten für die beantragte Versorgung dürften nicht übernommen werden, da die Klägerin eine Sonderschule für Kinder mit einer körperlichen Behinderung besuche und diese für die Bereitstellung behinderungsspezifischer Hilfsmittel zuständig sei. Die Klägerin möge sich an den Schulträger wenden.
Hiergegen erhob die Klägerin am 27.06.2023 Widerspruch.
Die Beklagte führte mit Schreiben vom 31.07.2023 ergänzend aus, dass es sich bei den begehrten Hilfsmitteln um Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens handle.
Daraufhin führte die Klägerin zur Begründung ihrer Widersprüche im Wesentlichen aus, dass die Vergrößerungssoftware kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens sei. Sie sei im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt und habe die Funktion Sehschwäche und -behinderung bei der Computer-Nutzung zu kompensieren. Zudem ließen sich Texte auch durch eine Audioausgabe vorlesen. Hinsichtlich der anderen Position handle es sich zwar um Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens, jedoch habe die Beklagte den Antrag nicht innerhalb von 14 Tagen weitergeleitet. Damit sei sie formal zuständig geworden. Die beantragten Hilfen seien gemäߧ 112 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) Leistungen zur Teilhabe an Bildung. Gemäߧ 112 Abs. 1 Satz 5 SGB IX seien hiervon auch Gegenstände und Hilfsmittel umfasst, die wegen der gesundheitlichen Beeinträchtigung zur Teilhabe an Bildung erforderlich seien. Bei der Kostenübernahme von solchen Gegenständen ist zu berücksichtigen, dass der Begriff „Gegenstände“ im Gesetz nicht definiert sei. In Betracht kämen in Abgrenzung zum Hilfsmittelbegriff somit auch allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens und Gegenstände außerhalb des Hilfsmittelverzeichnisses insofern diese den Zugang oder die Wahrnehmung von Bildungsangeboten erleichterten oder ermöglichten (vgl.Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB- IX, 4. Aufl. 2023, Stand: 21.11.2...