Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Entscheidungserheblichkeit einer ungeklärten Rechtsfrage. Folgenabwägung. vorläufige Sicherung des Existenzminimums. Asylbewerberleistung. Einkommen. Empfangsbevollmächtigter. kein wertmäßiger Zuwachs

 

Leitsatz (amtlich)

1. In Fällen einer zwischen den Beteiligten streitigen, entscheidungserheblichen, in Rechtsprechung und Literatur kontrovers diskutierten und bislang höchstrichterlich nicht entschiedenen Rechtsfrage, zu der eine Revision beim Bundessozialgericht anhängig ist, ist über den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes regelmäßig durch eine die widerstreitenden Interessen umfassend berücksichtigende Folgenabwägung zu entscheiden. Geht es dabei um die vorläufige Sicherung des Existenzminimums eines Asylbewerberleistungsberechtigten bis zur Entscheidung in der Hauptsache, rechtfertigt dies regelmäßig die Verpflichtung zur vorläufigen Gewährung von uneingeschränkten Grundleistungen.

2. Nur der wertmäßige Zuwachs einer Einnahme in Geld oder Geldeswert stellt Einkommen iS des § 7 Abs 1 S 1 AsylbLG dar; eine von einem Dritten lediglich vorübergehend zur Verfügung gestellte (hier: als Empfangsbevollmächtigte entgegengenommene) Leistung kann daher nicht als Einkommen qualifiziert werden.

 

Tenor

Der Antragsgegner wird einstweilen verpflichtet, den Antragstellern vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zur Bestandskraft einer förmlichen Entscheidung über den Antrag der Antragsteller vom 3. Februar 2012 ab dem 15. März 2012 Grundleistungen nach § 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) einschließlich der Leistungen bei Krankheit nach § 4 AsylbLG in gesetzlicher Höhe unter Berücksichtigung der auf die Antragsteller kopfteilig entfallenden Kosten der Unterkunft in M. sowie ohne Anrechnung von Einkommen und Vermögen des volljährigen Sohnes bzw. Bruders N. zu gewähren.

Der Antragsgegner hat den Antragstellern ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Den Antragstellern wird ab Antragstellung ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt O. in Hildesheim bewilligt.

 

Gründe

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung des Inhalts, den mit geänderter Wohnsitzauflage für die Stadt P. geduldeten Antragstellern - türkische Staatsangehörige, deren Asyl(folge-)verfahren ohne Erfolg blieben - Grundleistungen nach § 3 AsylbLG unter Übernahme der auf sie kopfteilig entfallenden Kosten ihrer in P. angemieteten Wohnung ohne Anrechnung des von ihrem volljährigen, bei den Antragstellern lebenden und mit ihnen gemeinsam wirtschaftenden Sohn bzw. Bruder N. aus der Beschäftigung bei der Q. monatlich erzielten Erwerbseinkommens, das auf ein Konto der Antragstellerin zu 1.) bei der Sparkasse R. überwiesen wird, sowie dessen Vermögen (im Wesentlichen ein PKW, amtl. Kennzeichen S.) zu gewähren, ist begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig ist. Steht einem Antragsteller ein von ihm geltend gemachter Anspruch voraussichtlich zu und ist es ihm nicht zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens (hier: des auf mündlichen Antrag der Antragsteller vom 03.02.2012 eingeleiteten Verwaltungsverfahrens) abzuwarten, ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes begründet. Eine aus Gründen der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gebotene Vorwegnahme der Hauptsache im einstweiligen Verfahren ist in der Regel nur dann zulässig, wenn dem Antragsteller ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung unzumutbare Nachteile drohen und für die Hauptsache hohe Erfolgsaussichten prognostiziert werden können (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 08.09.2004 - L 7 AL 103/04 ER -). Sowohl die hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs (Anordnungsanspruch) als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile (Anordnungsgrund) müssen glaubhaft gemacht werden, § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO). Aus Gründen der verfassungsrechtlich verbürgten Garantie der Gewährung effektiven Rechtsschutzes durch die Gerichte ist aber auch in Vornahmesachen, bei denen sich die Sach- und Rechtslage in der Hauptsache kompliziert gestaltet bzw. nicht vollständig aufgeklärt werden kann und deshalb der materielle Leistungsanspruch jedenfalls bei summarischer Prüfung nicht sehr wahrscheinlich erkennbar ist, der Erlass einer einstweiligen Anordnung geboten, wenn ohne dieselbe für den Betroffenen schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.10.1977 - 2 BvR 42/76 -, BVerfGE 46 [166, 179, 184]). In diesen F...

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