Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Schwerbehindertenrecht. Rechtsklarheit von Bescheiden. ausdrücklicher Ausspruch der Entziehung von Merkzeichen
Leitsatz (amtlich)
Möchte die Versorgungsverwaltung ein Merkzeichen entziehen, muss sie die Entziehung zu einem bestimmten Zeitpunkt ausdrücklich aussprechen und den betroffenen Bescheid hinreichend genau bezeichnen. Allein die Feststellung, die Voraussetzungen des Merkzeichens lägen nicht mehr vor, genügt den Anforderungen des § 48 Abs 1 S 1 SGB X nicht.
Tenor
Der Bescheid vom 10. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juli 2015 wird aufgehoben.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist der Entzug des Merkzeichens “G„ streitig.
Bei der 1939 geborenen Klägerin wurde - in Ausführung einer Entscheidung des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19. November 1998 (S 10 SB 3446/96) - mit Bescheid 8. Januar 1999 ein GdB von 80 anerkannt. Mit gesondertem Bescheid vom 24. März 1999 stellte der Beklagte das gesundheitliche Merkmal “G„ fest.
Am 15. Juli 2014 beantragte die Klägerin beim Beklagten die Feststellung eines höheren GdB und des Merkzeichens “B„. Nach Beiziehung ärztlicher Unterlagen und deren versorgungsärztlicher Verwertung erließ der Beklagte nach Anhörung der Klägerin den Bescheid vom 10. April 2015. Hierin hob er den Bescheid vom 8. Januar 1999 auf und stellte fest, der GdB betrage weiterhin 80, die Voraussetzungen für die Feststellung des gesundheitlichen Merkmals “G„ lägen nicht mehr vor und das geltend gemachte gesundheitliche Merkmal “B„ könne nicht festgestellt werden. Den Widerspruch vom 17. April 2015 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 2. Juli 2015 zurück. Die Lungenerkrankung, die zur Gewährung des Merkzeichens G mit Bescheid vom 24. März 1999 geführt habe, habe sich soweit gebessert, dass sie allein keinen GdB von 50 mehr ergebe. Die orthopädischen Funktionsbeeinträchtigungen begründeten das Merkzeichen nicht.
Mit ihrer am 24. Juli 2015 erhobenen Klage trägt die Klägerin im Wesentlichen vor, sie sei wegen einer Kniegelenksarthrose mit Deformität der Beine in der Gehfähigkeit eingeschränkt und auf einen Rollator angewiesen.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 10. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juli 2015 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält die angefochtenen Bescheide für rechtsfehlerfrei.
Dem Gericht haben die Unterlagen des Beklagten vorgelegen. Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf deren Inhalt sowie auf die Prozessakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die - nicht ausdrücklich auf die Entziehung des Merkzeichens “G„ beschränkte - Anfechtungsklage ist zulässig und in vollem Umfang begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Die Beklagte war nicht berechtigt, den Bescheid vom 8. Januar 1999 aufzuheben (s. 1.). Soweit die angefochtenen Bescheid dahingehend verstanden werden können, dass auch das mit Bescheid vom 24. März 1999 zuerkannte Merkzeichen “G„ entzogen wurde, ist die behördliche Entscheidung jedenfalls formell rechtswidrig (s. 2).
1. Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bescheides vom 8. Januar 1999 ist § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X).
a) Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Dabei gelten die allgemeinen Verfahrens- und Beweislastregeln wie für die Erstfeststellung (vgl. BSG SozR 5870 § 2 Nr. 44).
b) Die Voraussetzungen der Vorschrift liegen nicht vor. Eine wesentliche Änderung in den der Bewilligung vom 8. Januar 1999 zugrundeliegenden tatsächlichen Verhältnissen ist nicht eingetreten. Denn der Beklagte bewertet die Gesundheitsstörungen der Klägerin weiterhin mit einem Gesamt-GdB von 80. Die dem gleichbleibenden Gesamt-GdB zugrundeliegenden einzelnen Teil-GdB haben sich zwar geändert. Dies berechtigt den Beklagten aber nicht zu einer Aufhebung des Bescheides vom 8. Januar 1999. Denn dieser Bescheid stellte nicht die einzelnen Teil-GdB oder gar die diesen zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen fest, sondern nur den Gesamt-GdB. Das Schwerbehindertenrecht kennt nur einen Gesamtzustand der Behinderung. Dieser kann auf den Auswirkungen mehrerer zugleich vorliegender Funktionsbeeinträchtigungen beruhen. Ein GdB wird nur für den Gesamtzustand der Behinderung festgestellt, nicht für einzelne Funktionsbeeinträchtigungen. Soweit die Versorgungsverwaltung hierfür nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit (nunmehr Verordnung zur Durchführung des § 1 Absätze 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetzes - Versorgungsmedizin-Verordnung - vom 10. Dezember 2008) einzelne Grade der Behinderung anzugeben hat, handelt es sich lediglich um Bewertungsfa...