Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Vergütungsfestsetzung. Verwirkung des Erinnerungsrechts der Staatskasse. Verwirkungsfrist. Vertrauensschutzprinzip. Statthaftigkeit der Beschwerde
Leitsatz (amtlich)
1. Das Erinnerungsrecht der Staatskasse gem § 56 Abs 1 S 1 RVG gegen Vergütungsfestsetzungen des Urkundsbeamten nach § 55 Abs 1 S 1 RVG ist spätestens nach Ablauf eines Jahres nach Wirksamwerden der Vergütungsfestsetzung verwirkt (Anschluss LSG München vom 4.10.2012 - L 15 SF 131/11 B E = AGS 2012, 584).
2. Gegen die Entscheidungen nach § 56 Abs 1 S 1 RVG ist die Beschwerde grundsätzlich statthaft.
Tenor
Die Erinnerung wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
Die Erinnerung der Staatskasse vom 30.12.2012 wendet sich gegen die Vergütungsfestsetzung des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle vom 20.01.2011 für das Verfahren S 3 AS 362/09 ER.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands nimmt die Kammer auf die zutreffende und abschließende Darstellung des Erinnerungsführers im Schreiben vom 30.11.2012 sowie auf den Inhalt der Gerichtsakten dieses Erinnerungsverfahrens und des Ausgangsverfahrens S 3 AS 362/09 ER Bezug.
II.
Die Erinnerung ist unzulässig. Das Erinnerungsrecht der Staatskasse ist verwirkt.
Das Gericht hat keine Bedenken, dass es sich bei der Entscheidung des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle vom 20.01.2011 um eine Vergütungsfestsetzung i.S.d. § 55 Abs. 1 S. 1 RVG handelt, so dass die Erinnerung nach § 56 Abs. 1 S. 1 RVG statthaft ist.
Die Erinnerung des Erinnerungsführers ist nicht verfristet.
Die Erinnerung nach § 56 RVG ist nicht fristgebunden, was sich aus § 56 Abs. 2 S. 1 RVG ergibt. Denn danach gilt im Verfahren über die Erinnerung § 33 Abs. 4 S. 1, Abs. 7 und Abs. 8 RVG entsprechend. Auf § 33 Abs. 3 RVG, der in seinem Satz 3 bestimmt, dass die Beschwerde innerhalb von zwei Wochen einzulegen ist, ist für das Verfahren über die Erinnerung nicht Bezug genommen. Eine Verfristung scheidet daher aus (im Ergebnis ebenso BayLSG, Beschl. v. 04.10.2012 - L 15 SF 131/11 B E, juris, Rn. 19 a.E.).
Die Erinnerung ist aber verwirkt.
Denn spätestens nach Ablauf eines Jahres nach Wirksamwerden der Vergütungsentscheidung des Urkundsbeamten ist das Erinnerungsrecht der Staatskasse verwirkt, wenn nicht besondere missbilligenswerte Umstände in der Sphäre des Rechtsanwalts vorliegen (BayLSG, Beschl. v. 04.10.2012 - L 15 SF 131/11 B E, juris, Rn. 22, mit umfangreicher Herleitung).
Dies gebietet das verfassungsrechtlich garantierte Vertrauensschutzprinzip, welches seine Grundlage im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG findet. In diesen Fällen geht der Vertrauensschutz dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit vor (BayLSG, Beschl. v. 04.10.2012 - L 15 SF 131/11 B E, juris, Rn. 20).
Dass der Erinnerungsführer von der Vergütungsfestsetzung erst zu einem Zeitpunkt Kenntnis erlangt hat, in dem die Jahresfrist verstrichen war, steht der Verwirkung nicht entgegen, weil die Staatskasse weder vor der Vergütungsfestsetzung anzuhören noch ihr die Vergütungsfestsetzung bekanntzugeben ist.
Eine vorherige Anhörung ist nach dem Wortlaut von § 55 RVG nicht erforderlich. In anderen Fällen Kostenfestsetzungskonstellationen hat der Gesetzgeber ein Anhörungserfordernis indessen expressis verbis angeordnet, wie etwa § 11 Abs. 2 S 2 RVG zeigt (Anspruch auf rechtliches Gehör, vgl. N. Schneider, in: Schneider/Wahlen, RVG, 6. Aufl. 2012, § 11 Rn. 162).
Schließlich folgt aus den Vorgaben der Verwaltungsvorschrift über die Festsetzung der aus der Staatskasse zu gewährenden Vergütung der Rechtsanwältinnen, Rechtsanwälte, Patentanwältinnen, Patentanwälte, Rechtsbeistände, Steuerberaterinnen und Steuerberater - die in Hessen gemäß Runderlass vom 23.12.2011 (vgl. JMBl. 2012, S. 29) gilt - dass der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle erst dann eine Mitteilung an die Vertretung der Staatskasse zu geben hat, wenn er eine Festsetzung zu Ungunsten der Staatskasse ändert (I. A. 1.4.2. des Erlasses). Daraus folgt, dass die Staatskasse von der erstmaligen Festsetzung nicht zu unterrichten ist, was im Übrigen auch - wie der Erinnerungsführer selbst einräumt - der Verwaltungspraxis entspricht.
Der Erinnerung war daher der Erfolg zu versagen.
Gerichtskosten werden gem. § 56 Abs. 2 S. 2 RVG im Verfahren über die Erinnerung nicht erhoben. Kosten werden gem. § 56 Abs. 2 S. 3 RVG nicht erstattet.
Gegen diese Entscheidung ist gem. § 56 Abs. 2 RVG grundsätzlich die Beschwerde statthaft. Ein Vorrang des Normgefüges des SGG, dahin gehend, dass (auch) gegen Erinnerungen nach § 56 Abs. 1 RVG eine Beschwerde gem. § 197 Abs. 2 SGG ausgeschlossen ist, erscheint schon deshalb bedenklich, weil die Erinnerung nach § 56 Abs. 1 RVG sich auf Vergütungsfestsetzungen (aus der Staatskasse) gem. § 55 RVG bezieht. § 197 Abs. 2 SGG bezieht sich hingegen auf Kostenfestsetzungen (zwischen den Beteiligten) gem. § 197 Abs. 1 SGG (wie hier: BayLSG, Beschl. v. 04.10.2012 - L 15 SF 131/11 B E, juris, Rn. 8; LSG NW, Beschl. v. 29.01.2008 - L 1 B 35/07 AS, juris, Rn. 8; bestätigt dur...