Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeld II. Nichtanwendung des Leistungsausschlusses für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Ehegattin eines als Arbeitnehmer beschäftigten Unionsbürgers. abgeleitetes Freizügigkeitsrecht. Getrenntleben durch Frauenhausaufenthalt nach häuslicher Gewalt. Unterhaltsanspruch. keine Berücksichtigung von fiktivem Einkommen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Gem § 3 Abs 1 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) haben Familienangehörige der in § 2 Abs 2 Nr 1 - 5 FreizügG/EU genannten Unionsbürger das Recht auf Freizügigkeit, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen.

2. Kommt es nach der gemeinsamen Einreise nach Deutschland zu einer Trennung (hier nach häuslicher Gewalt), nicht aber zu einer Scheidung, hängt ein eventueller SGB 2-Leistungsanspruch der bisher nicht berufstätigen Ehefrau nicht davon ab, ob diese mit ihrem Ehemann eine Bedarfsgemeinschaft bildet.

3. Die Anrechnung fiktiven Einkommens im Bereich des SGB 2 widerspricht dem Bedarfsdeckungsgrundsatz. Ein Verweis auf noch nicht realisierte Unterhaltsansprüche ist unzulässig.

 

Tenor

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellerinnen vorläufig ab 20.03.2014 bis spätestens 31.07.2014 Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Antragsgegner hat den Antragstellerinnen ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Den Antragstellerinnen wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin B. bewilligt.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes darüber, ob die Antragstellerinnen dem Grunde nach einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben.

Die Antragstellerinnen sprachen am 13.03.2014 beim Antragsgegner vor. Zuvor hatten sie bereits am 28.02.2014 mit einer Mitarbeiterin des Frauenhauses zur Beantragung von SGB II-Leistungen vorgesprochen. Bei der persönlichen Vorsprache am 28.02.2014 habe die Antragstellerin nach einem Hinweis auf ausländerrechtliche Konsequenzen erklärt, auf Leistungen nach dem SGB II verzichten zu wollen. Es sei auf die Möglichkeit der Beantragung von Unterhaltsvorschuss und auf die Unterhaltsbeantragung der Antragstellerinnen hingewiesen worden. Bei der erneuten Vorsprache habe die Antragstellerin zu 1) mitgeteilt, dass sie nun doch einen Arbeitslosengeld II-Antrag stellen wolle. Einem Vermerk des Antragsgegners zum Sachverhalt vom 21.03.2014 kann in diesem Zusammenhang entnommen werden, dass die Antragstellerin zu 1) verheiratet sei, aber von ihrem Ehemann getrennt lebe. Der Ehemann gehe einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nach. Nach der Trennung vom Ehemann sei der gewöhnliche Aufenthalt der Antragstellerinnen im Frauenhaus A-Stadt gewesen. Laut Einwohnermeldeamt der Stadt A-Stadt befinde sich die Antragstellerin zu 1) seit 2011 in Deutschland. Seit diesem Zeitpunkt gehe sie keiner Beschäftigung nach und habe auch kein sonstiges Einkommen. Die Antragstellerin zu 2) ist ihre Tochter. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Vermerk vom 21.03.2014 Bezug genommen.

Mit Bescheid vom 14.03.2014 lehnte der Antragsgegner den Antrag auf Leistungen nach dem SGB II ab. Nach Prüfung der Sachlage halte sich die Antragstellerin zu 1) allein zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland auf, ein Daueraufenthaltsrecht sei nicht erworben worden. Die Antragstellerinnen würden laut eigenen Angaben seit 2011 in Deutschland leben und die Antragstellerin zu 1) übe keine Tätigkeit aus. Dementsprechend bestehe nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II.

Gegen diesen Bescheid legte die Bevollmächtigte der Antragstellerinnen mit Schriftsatz vom 19.03.2014 Widerspruch ein. Die Antragstellerinnen hätten ein Aufenthaltsrecht nicht allein zum Zwecke der Arbeitssuche. Vielmehr hielten sich die Antragstellerinnen bereits seit dem 22.12.2011 in Deutschland auf. Die Antragstellerin zu 1) habe eine Familie gründen wollen und am 09.12.2013 ihren Lebensgefährten geheiratet. Ihr Ehemann arbeite bei der Firma in N-Stadt und sei dort festangestellt. Herr A. verdiene 1.350 € und genieße damit volle Freizügigkeit. Dass die Antragstellerin zu 1) aufgrund häuslicher Gewalt in ein Frauenhaus habe flüchten müssen, ändere nichts an ihrem Status als freizügigkeitsberechtigte EU-Bürgerin im Sinne eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts. Aus diesem Recht habe die Antragstellerin zu 1) einen Anspruch auf SGB II-Leistungen, da § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II nicht eingreife. Auf die Europarechtswidrigkeit der Vorschrift komme es somit nicht an. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die Antragstellerinnen einen Kindergeldantrag gestellt hätten, über den noch nicht entschieden worden sei.

Am 20.03.2014 haben die Antragstellerinnen einen einstweiligen Rechtsschutzantrag beim Sozialgericht Kassel gestellt und den Antrag mit Schriftsatz vom gleichen Tag begründet. Die Antragstellerin zu 1) sei mit Herrn A. verheiratet, der ebenfalls wie die Antragstellerinnen bulgarischer Staatsangehöriger sei....

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